Killinger Literaturkunde, Schulbuch

309 DAs ZEI T- unD gEsELLscHAfTskRI T I scHE gEDIcHT Das zeit- und gesellschaftskritische Gedicht zeigt Missstände auf bzw. Zustände, die als Missstände gesehen werden. Damit unterscheidet sich diese Art von Lyrik, die es seit Walther von der Vogel- weide gibt, grundsätzlich von der Erlebnislyrik (Ich-Lyrik), die nur die Befindlichkeit des lyrischen Ichs im Auge hat. Die Absicht gesellschaftskritischer Gedichte ist der Appell zur Veränderung. Die Autorin bzw. der Autor versucht mit der Leserin oder dem Leser ein Gespräch zu führen; sie bzw. er monologisiert nicht, sondern ist partnerzugewandt. Ihre oder seine Gedichte sollen unmittelbaren Gebrauchswert haben. Da das kritische Gedicht unser Umfeld beleuchtet, beschäftigt es sich auch mit der Frage: Wie wird Sprache im öffentlichen und im privaten Leben verwendet? Welche Sprach- und Denkformen haben sich festgesetzt und verhindern ein freies Urteil? Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) übt in seinen Gedichten und in seinen Essays besonders deutlich Kritik an politischen und gesellschaftlichen Phänomenen, wie z. B. an der Rolle der Medien, deren Macht er hinterfragt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Hans Magnus Enzensberger an alle fernsprechteilnehmer (1958) etwas, das keine farbe hat, etwas, das nach nichts riecht, etwas zähes, trieft aus den verstärkerämtern 1 , setzt sich fest in die nähte der zeit und der schuhe, etwas gedunsenes, kommt aus den kokereien, bläht wie eine fahle brise die dividenden und die blutigen segel der hospitäler, mischt sich klebrig in das getuschel um professuren und primgelder, rinnt, etwas zähes, davon der salm stirbt, in die Ÿüsse, und sickert, farblos, und tötet den butt auf den bänken. die minderzahl hat die mehrheit, die toten sind überstimmt. in den staatsdruckereien rüstet das tückische blei auf, die ministerien mauscheln, nach phlox 20 22 24 26 28 30 32 34 36 und erloschenen resolutionen riecht der august. das plenum ist leer. an den himmel darüber schreibt die radarspinne ihr zähes netz. die tanker auf ihren helligen wissen es schon, eh der lotse kommt, und der embryo weiß es dunkel in seinem warmen, zuckenden sarg: es ist etwas in der luft, klebrig und zäh, etwas, das keine farbe hat (nur die jungen aktien spüren es nicht): gegen uns geht es, gegen den seestern und das getreide. und wir essen davon und verleiben uns ein etwas zähes, und schlafen im blühenden boom, im fünfjahresplan, arglos schlafend im brennenden hemd, wie geiseln umzingelt von einem zähen, farblosen, einem gedunsenen schlund. 9. Erklären Sie mit Hilfe von Lexika oder des Internets Ihnen unbekannte Begriffe in diesem Text- ausschnitt. Appell zur Veränderung 1 verstärkeramt: „Ein Verstärkeramt ist eine Einrichtung, deren sich jedermann bedient, ohne sich ihrer Existenz und Funktion bewusst zu werden. Jedes Ferngespräch, das wir führen, geht über ein solches Amt. Es läuft über eine Zentrale, wo die Schwachstromimpulse elektronisch verstärkt werden. Solche Zentralen liegen gewöhnlich irgendwo auf dem Land, unschein- bare Gebäude, in deren Kellern die Automaten ihre Arbeit verrichten“ (H. M. Enzensberger). 62gy74 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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