Killinger Literaturkunde, Schulbuch

305 5. Weisen Sie nach, dass Benn hier ein Gedicht im Sinne seiner Erklärung anstrebt: • Vergleichen Sie die erste und die zweite Strophe. • Kommentieren Sie das Lebensgefühl, das hier vermittelt wird. • Heben Sie bemerkenswerte formale Aspekte hervor. DAs suRREALE gEDIcHT Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der deutschen Lyrik auch die poetischen Verfahrensweisen des Surrea- lismus wirksam. Dichter/innen wie Peter Huchel, Gün- ter Eich, Karl Krolow und Ingeborg Bachmann beschäf- tigten sich eingehend mit der französischen Literatur und mit der surrealen (= traumhaft-unwirklichen) Bild- technik. Vor allem die Gedichte von Paul Celan lassen eine surreale Sehweise erkennen. Surrealismus heißt wörtlich: über den Realismus hin- ausgehend. Der Surrealist möchte von der sinnenhaft erfahrbaren Wirklichkeit und dem logischen Denken weg und in eine Welt des Unbewussten, des Traumhaf- ten, der Visionen gelangen. Er lehnt daher die übliche Bedeutung der Wörter und die grammatischen Regeln des Satzbaus ab und hält sich an spontane Assoziatio- nen, an vom Unbewussten, vom psychischen Ausnah- mezustand gesteuerte Bilderfolgen. Die Texte sind sehr schwer verständlich, man nennt sie deswegen auch „hermetisch“ 1 . Im surrealen Gedicht haben die Worte nicht mehr die Aufgabe, außersprachliche Realität zu treffen. Sie schaffen vielmehr unreale Gebilde, die auf eine seelische Gestimmtheit, auf eine noch sprachlose Erfahrung hindeuten. Sie ergeben ein Wortmuster oder „Sprachgitter“ (Celan), das für sich selbst steht. Ein wichtiges Prinzip der Wortgruppierung ist die Verbindung eines konkreten mit einem abstrakten Nomen. Sinnlich Wahrnehmbares wird durch das beigefügte Abstraktum vergeistigt, und Abstraktes erhält durch das Konkretum Farbe, Form und Stimmung. Das ergibt eigenartige sprachliche Bilder: ein Krug voll Zeit, Türme des Vergessens, das Gold unserer Träume, Hochöfen des Schmer- zes, die Stufen der Schwermut, die Tische der Zeit. Das stärkste sprachliche Bild ist dasjenige, das durch einen hohen Grad an Willkür gekennzeichnet ist; für das man am längsten braucht, um es in die Alltagssprache zu übersetzen. Dieses Abheben von der Alltagssprache kann in verschiedener Weise erfolgen: durch offenkundige Widersprüch- lichkeit, durch ein halluzinatorisches Element, dadurch, dass man dem Abstrakten die Maske des Konkreten überstülpt, oder dadurch, dass die Vernunft sich weigert, die so verschiedenen Kategorien der Wirklichkeit entstammenden Wörter in Beziehung zu setzen. Hermetische Literatur 1 hermetisch: so dicht verschlossen, dass nichts hinein- oder herausdringen kann René Magritte (1898 – 1967), Der heimliche Spieler ; 1927, Öl auf Leinwand, Musé- es Royaux des Beaux-Arts, Brüssel. Magritte zählt zu den bedeutendsten Vertretern des Surrealismus. Sein künstlerisches Schaffen war darauf gerichtet, die Wirklichkeit zu verdeutlichen. Er malte naturalistische Darstellungen von Gegenständen bzw. Lebewesen, verfremdete diese aber durch deren ungewöhnlichen Zusammenhang. 4ay2vb DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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