Killinger Literaturkunde, Schulbuch

304 Die ästhetische Form Gottfried Benn möchte in seinen 1949 erschienenen Statischen Gedichten die Sinnlosigkeit des Seins durch die ästhetische Form, die der Mensch schafft, bannen. Die Ekelgedanken über das Absurde des Daseins sollen mit dem Schönheitsschleier der Kunst überdeckt werden. Denn nur mit Hilfe der künstlerischen Form kann die „schlechteste aller Welten“ erträglich gemacht werden; Sinnstiftung ist nur im Bereich der Kunst möglich. Rundherum ist das Chaos des Seins. Die Gedichte aus Benns letzter Periode durchzieht eine zweifache Thematik: Zum einen werden die Kunst und der künstleri- sche Schaffensvorgang selbst Gegenstand der Darstellung, zum anderen wird als Ziel ein „absolutes Gedicht“ angestrebt, das die Erfahrung des einsamen Ichs in Form verwandelt. In seinem Vortrag Probleme der Lyrik (1951) sagte Gottfried Benn: 1 5 10 15 2 4 6 8 Die Öffentlichkeit lebt vielfach in der Meinung: Da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholi- sche Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht. [...] Mit dem Begriff Lyrik haben sich seit einigen Jahrzehnten bestimmte Vorstellungen ver- bunden. Auf der einen Seite steht das Emotionelle, das Stimmungsmäßige, das Thematisch- Melodiöse, und auf der anderen Seite steht das Kunstprodukt. Das neue Gedicht, die Lyrik, ist ein Kunstprodukt. Damit verbindet sich die Vorstellung von Bewusstheit, kritischer Kontrolle, und, um gleich einen gefährlichen Ausdruck zu gebrauchen, die Vorstellung von „Artistik“. [...] Ich verspreche mir nichts davon, tiefsinnig und langweilig über die Form zu sprechen. Form, isoliert, ist ein schwieriger Begriff. Aber die Form ist ja das Gedicht. Die Inhalte eines Gedichtes, sagen wir Trauer, panisches Gefühl, ˆnale Strömungen, die hat ja jeder, das ist der menschliche Bestand, sein Besitz in mehr oder weniger vielfältigem und sublimem 1 Ausmaß, aber Lyrik wird daraus nur, wenn es in eine Form gerät, die diesen Inhalt trägt, aus ihm mit Worten Faszination macht. Eine isolierte Form, eine Form an sich, gibt es ja gar nicht. [...] Gottfried Benn Ein Wort (1943) Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren 2 steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen und alles ballt sich zu ihm hin. Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich – und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich. Ästhetik als Filter der Wirklichkeit 1 sublim: nur mit großer Feinsinnigkeit wahrnehmbar 2 Chiffre: Stilfigur in der modernen Lyrik, Wörter, die als verrätselte Symbole mit meist komplexen Bedeutungen aufgeladen sind Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Verlags öbv

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