Killinger Literaturkunde, Schulbuch

290 20 25 30 35 40 45 50 55 „Mag sein ... sicherlich hänge ich am Leben, ja, ich hänge daran, ich muss es zugeben; ich bin des Lebens unersättlich, eben weil mich so sehr nach dem Tode hungert ... noch weiß ich nichts vom Tode ...“ „Der Tod ist nichts; es ist über üssig von ihm zu sprechen.“ „Du hast viel Tod gesehen, Octavian; vielleicht weißt du darum mehr vom Leben als jeder andere.“ „Möglicherweise war es sogar zu viel Tod, den ich zu sehen bekam, aber wahrlich, mein Freund, das Leben ist so wenig wie der Tod; es führt zu ihm hin, und beide sind nichts.“ [...] Der Augustus setzte sich, und wiederum war es eine etwas müde und einigermaßen unheldi- sche Geste, mit der er sich niederließ. Für eine kurze Weile schloss er die Augen, seine Hand suchte einen Stützpunkt, sie fand ihn an dem bekränzten Kandelaber 1 , und seine Finger, spielend, zerrieben ein Lorbeerblatt. Und als er die Lider wieder aufschlug, da war der Blick matt und ein wenig leer. Oh, auch dies müsste man festhalten, müsste es aufschreiben können, müsste es aufschrei- ben wie all das andere, das durch die vielen Jahre hindurch vorbeige ossen war ohne aufgeschrieben worden zu sein, wie all das andere Menschliche, das nun kaum mehr ein Erinnern war, ein undeutliches Gewimmel von Schädeln und Gesichtsformen, bäurischen und städtischen, sie allesamt haarbewachsen und mit Haut überzogen, runzelig und glatt und manchmal sehr nnig, ein undeutliches Gewimmel von Gestalten, die vorübergezogen waren, vorübergeschlichen, vorübergehinkt, des Menschen ewig gleichbleibender Man- nigfaltigkeitskreis, zu dem selbst der Augustus, der irdische Gottesträger, unabweislich gehörte, er ebenso unerinnert wie dieses ganze undurchdringliche, unabzählbare, unabbild- bare Gewimmel von Lebensgeschöpfen, ebenso unerinnert wie jedes Einzelne von ihnen, unerinnert sogar das Kreatürliche schlechthin, das ihnen allesamt innewohnt, fressend und schlafend, angefüllt mit Flüssigem und Halbfestem, unerinnert das Knochengestänge unter der Fleischüberpolsterung, das aufgerichtete Knochengestänge, mit dem sie sich bewegen, unerinnert der Mensch, oh, der Mensch, in dessen Lächeln trotz alldem das Göttliche wohnt, sodass er im Lächeln die Neben-Seele, den Neben-Menschen göttlich erkennt – die menschliche Verständigung, die Geburt der Menschensprache aus dem Lächeln. Nichts war davon festgehalten worden, und statt dessen war ein mäßig geglückter Abklatsch des homerischen 2 Vorbildes entstanden, ein leeres Nichts, angefüllt mit Göttern und Helden homerischen Gehabens, gegen deren Unwirklichkeit sogar die Müdigkeit des Enkels, der hier saß, noch Kraft bedeutete: denn göttlich noch war selbst dies müdeste Lächeln, das hier im Antlitz des Cäsars schimmerte –, aber kein Antlitz und kein Lächeln besitzt der actische 3 Sieger im Gedicht, er besitzt nichts als eine Rüstung und einen Helm; ohne Wahrheit war das Gedicht, wirklichkeitsfern sein Held Äneas, wirklichkeitsfern der Äneas-Enkel darin, ein Gedicht ohne Erkenntnistiefe, das nichts wahrhaft festgehalten hat, unfähig hiezu, weil nur in der Erkenntnis sich Licht und Schatten formbauend sondern: das Gedicht war schatten- los fahl geblieben. 1 Kandelaber: mehrarmiger, säulenartiger Ständer für Kerzen und Lampen 2 Homer: um 800 v. Chr., griechischer Dichter der Epen Ilias und Odyssee . 3 actischer Sieger: In der Schlacht von Actium (31 v. Chr.) errang Octavian, der spätere Kaiser Augustus, die Vorherrschaft über das Römische Reich. Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum de Verlags öbv

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