Killinger Literaturkunde, Schulbuch

289 Hermann Broch Der dritte große österreichische Romancier der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war Hermann Broch. Hermann Broch (1886 – 1951) war der Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten in Wien. Er besuchte die Technische Hochschule und arbeitete bis 1927 im Familienbetrieb. Dann vollzog sich in ihm eine Wende: Er studierte Mathematik, Philosophie und Psychologie und zog sich anschlie- ßend in die Berge Tirols und Salzburgs zurück, um ein „geistiger“ Mensch zu werden. 1938, beim Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich, wurde er ins Gefängnis von Aussee gesperrt. Dort, angesichts des Todes, reifte in ihm der Plan, den Tod des Vergil als Roman zu bearbeiten. Durch Vermittlung ausländischer Freunde konnte Broch in die USA emigrieren, wo er sich später mit Fragen der Menschenrechte beschäftigte. Broch litt am Zerfall der politischen, sozialen und künstlerischen Werte in seiner Umwelt. Er ver- suchte zuerst, mit seinem Romanschaffen, dann mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten dagegen anzukämpfen. Seine literarischen Vorbilder waren James Joyce, Thomas Mann und Franz Kafka. Broch hat fünf Romane vollendet, darunter Die Schlafwandler (eine Trilogie, 1930 – 1932), Die Schuldlosen. Roman in 11 Erzählungen (1950) und Der Tod des Vergil . Der Tod des Vergil (1944) ist ein Roman am Ende einer Kultur: damals unter Augustus (gest. 14 n. Chr.) und zur Zeit der Niederschrift. „Im inneren Monolog des sterbenden Dichters spiegelt sich der Todeskampf einer sich auflösenden Welt“ (Walter Weiss). Das Kernstück des Romans ist die geistige Auseinandersetzung zwischen dem todkranken Vergil, dem größten römischen Dichter, und dem größten römischen Kaiser im dritten Kapitel, „Erde – Die Erwartung“. Vergil möchte sein Lebenswerk, die Aeneis , in dem er die Geschichte und Entwicklung Roms von den Anfängen bis herauf zu Augustus dichterisch dargestellt hat, verbrennen. Der Kaiser aber braucht die Aeneis , um in das Gedächtnis der Nachwelt einzugehen, Unsterblichkeit zu erlan- gen. Gegen die Auffassung des Kaisers, die Aeneis sei „das Werk des römischen Volkes und seiner Größe“, setzt Vergil die Meinung, sein Werk sei „ein Suchen nach Erkenntnis, ohne Erkenntnis zu werden, ohne Erkenntnis zu sein“. 1 5 10 15 „Ach, Augustus, auch ich habe einstens gemeint, dass dies, gerade dies die Erkenntnisauf- gabe des Dichters sei und so wurde mein Werk ein Suchen nach Erkenntnis, ohne Erkennt- nis zu werden, ohne Erkenntnis zu sein ...“ „So muss ich dich nochmals fragen, Vergil, zu welchem Ziel du mit deiner Dichtung ge- strebt hast, nachdem es die Erkenntnis des Lebens nicht sein sollte.“ „Die Erkenntnis des Todes.“ – Es war wie ein Wiedernden, wie ein Wiedererkennen, wie eine heimkehrende Erleuchtung, und rasch, wie aus einer Erleuchtung heraus, war es gesagt gewesen. Es entstand eine Pause: das leise erdbebenhafte Pendeln des Seins hielt an, indes der Cäsar achtete noch immer nicht darauf, vielmehr schien er von dem Gehörten nun doch betroffen. Und es dauerte eine gute Weile, bis er antwortete: „Der Tod gehört zum Leben; wer das Leben erkennt, der erkennt auch den Tod.“ War dies richtig? Es klang wie Wahrheit, und war doch nicht wahr oder war nicht mehr wahr: „Es hat keinen Augenblick meines Lebens gegeben, Octavian, den ich nicht hätte festhalten wollen, aber auch keinen, in dem ich nicht zu sterben gewünscht hätte.“ Die Betroffenheit des Cäsars bemühte sich ins Liebenswürdige zurückzunden: „Es ist nur ein Glück, mein Vergil, dass dir der Sterbenswunsch bisher noch nichts genützt hat; auch diesmal wird er dir bloß bis zur Krankheit verholfen haben. Dein Wunsch zum Leben wird sich mit Hilfe der Götter aufs Neue als der stärkere erweisen.“ fn2z77 Rolle der Dichtung DIE ZEIT ZWISCHEN DEN KRIEGEN – NEUE SACHLICHKEIT | 1920 – 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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