Killinger Literaturkunde, Schulbuch

288 Als eine Art Grabgesang für die Monarchie ist auch Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften , sein Hauptwerk, zu verstehen, an dem er ab 1921 20 Jahre gearbeitet hat. Zwei Bände des sehr umfangreichen Romans sind zu seinen Lebzeiten erschienen, der 3. Band unvollendet nach seinem Tod. Es handelt sich um einen vielschichtigen Roman, der nicht nur ein gewaltiges Zeitgemälde vom Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie ist, sondern auch ein philosophisches Bild vom Zustand des Menschen gibt. Der Roman gilt heute als Schlüsselroman der modernen Literatur. Sein Autor allerdings ist in Ver- einsamung und völliger Armut 1942 in Genf gestorben. Musil wusste offenbar von der großen Bedeutung des Romans, dem jedoch keine Breitenwirkung und damit kein spektakulärer Erfolg beschieden war. Er sagte: Ich wage von meinem Ruf (nicht von mir selbst) zu behaupten, dass er der eines großen Dichters ist, der kleine Au agen hat. Es fehlt ihm das soziale Gewicht. Ausgangspunkt des Romans ist eine „Parallelaktion“: Graf Leinsdorf versammelt um sich Vertreter der Oberschicht Kakaniens 1 , um parallel zum 30-jährigen Regierungsjubiläum des deutschen Kaisers Wilhelm II. für das Jahr 1918 eine groß angelegte Kundgebung zum 70-jährigen Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs I. vorzubereiten. Der Kreis, der diese Jubiläumsfeiern ausrichten soll, setzt sich aus Vertretern der oberen Gesellschaft zusammen, die zwar oberflächlich an dem gemeinsamen Ziel arbeiten, allerdings in Wahrheit ihre eigenen Absichten verfolgen. Protagonist des Romans ist Ulrich, der „Mann ohne Eigenschaften“, der als Sekretär für diesen Kreis arbeitet. Zusammen mit seiner Schwester Agathe versucht er, einen neuen, „heiligen“ Weg im Leben zu finden: Sie wollen als Gegenentwurf zur Entfremdung in der bürgerlich-kapitalistischen Industriegesellschaft die uralten Kräfte von Mythos und Religion wieder lebendig und fruchtbar machen, ohne allerdings auf die Führung durch den Verstand zu verzichten, weil sonst ein Abglei- ten in unkontrollierbare Tiefen droht. Diesen „anderen Zustand“ erreichen und dennoch nicht den Verstand verlieren, das wäre eine Art Quadratur des Kreises. Musil sagt von seinem Mann ohne Eigenschaften: 1 5 10 Er bringt durcheinander, löst auf und hängt neu zusammen. Gut und Bös, oben und unten sind für ihn nicht skeptisch-relative Vorstellungen, wohl aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhängen, in dem sie sich benden. [...] Er hat es den Jahrhunderten abgelernt, dass Laster zu Tugenden und Tugenden zu Lastern werden können. Er anerkennt nichts Erlaubtes und nichts Unerlaubtes, denn alles kann eine Eigenschaft haben, durch die es eines Tages teilhat an einem großen, neuen Zusammenhang. Er hasst heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stünde es ein für allemal fest, die großen Ideale und Gesetze und ihren kleinen versteinten Abdruck, den gefriedeten Charakter. Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung, glaubt an keine Bindung, und alles besitzt den Wert, den es hat, nur bis zum nächsten Akt der Schöpfung. 13. Beschreiben Sie, welches Menschenbild Musil in diesem Abschnitt vermittelt. Vergleichen Sie es mit Ihrer Vorstellung des modernen Menschen. 1 Kakanien: Das Land leitet seinen Namen von k.k. (= kaiserlich-königlich, der Bezeichnung für die Donaumonarchie) ab. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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