Killinger Literaturkunde, Schulbuch

284 15 20 25 30 35 40 der Kopf will platzen. Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektri- sche sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. »Zwölf Uhr Mittagszeitung«, »B. Z.«, »Die neuste Illustrirte«, »Die Funkstun- de neu« »Noch jemand zugestiegen?« Die Schupos 1 haben jetzt blaue Uniformen. Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte. Mein Brägen 2 hat wohl kein Schmalz mehr, der ist wohl ganz ausgetrocknet. Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlam- pen, Destillen 3 . Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie so viel rumlaufen, wir hatten ja auch eine Schusterei, wollen das mal festhalten. Hundert blanke Scheiben, laß die doch blitzern, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt. Man riß das P aster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den andern auf Holzbohlen. Man mischt sich unter die andern, da vergeht alles, dann merkst du nichts, Kerl. Figuren standen in den Schaufenstern in Anzü- gen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen bewegte sich alles, aber – dahinter – war nichts! Es – lebte – nicht! Es hatte fröhliche Gesichter, es lachte, wartete auf der Schutzinsel gegenüber Aschinger zu zweit oder zu dritt, rauchte Zigaretten, blätterte in Zeitungen. So stand das da wie die Laternen – und – wurde immer starrer. Sie gehörten zusammen mit den Häusern, alles weiß, alles Holz. Schreck fuhr in ihn, als er die Rosenthaler Straße herunterging und in einer kleinen Kneipe ein Mann und eine Frau dicht am Fenster saßen: die gossen sich Bier aus Seideln in den Hals, ja was war dabei, sie tranken eben, sie hatten Gabeln und stachen sich damit Fleisch- stücke in den Mund, dann zogen sie die Gabeln wieder heraus und bluteten nicht. Oh, krampfte sich sein Leib zusammen, ich kriege es nicht weg, wo soll ich hin? Es antwortete: Die Strafe. Er konnte nicht zurück, er war mit der Elektrischen so weit hierher gefahren, er war aus dem Gefängnis entlassen und mußte hier hinein, noch tiefer hinein. 9. Kommentieren Sie die ersten Eindrücke Franz Biberkopfs nach seiner Haftentlassung, die sich in diesem Ausschnitt zeigen: • Erläutern Sie, wie Biberkopf zu der neu erlangten Freiheit steht. Analysieren Sie, mit welchen Ausdrücken er sie charakterisiert. • Beschreiben Sie seinen Eindruck von der Welt um ihn herum. Geben Sie Beispiele für die verschiedenen Sinne, die angesprochen werden. • Kommentieren Sie, aus welchen Erzählperspektiven hier erzählt wird. • Überlegen Sie, wie sich die heutige Welt innerhalb der letzten vier Jahre geändert hat. Erörtern Sie, mit welchen Veränderungen ein Mensch heutzutage konfrontiert wäre, der vier Jahre im Gefängnis verbracht hat. 1 Schupo: Schutzpolizist 2 Brägen: Gehirn von Schlachttieren (Küchensprache) 3 Destille: kleinere Gastwirtschaft, in der vorwiegend Branntwein ausgeschenkt wird Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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