Killinger Literaturkunde, Schulbuch

280 DAs voLkssTÜck Als „Volksstück“ bezeichnete man im späten 19. Jahrhundert die im Dialekt geschriebenen Dramen des Wieners Ludwig Anzengruber (1839 – 1889) ( Der Meineidbauer , Der G’wissenswurm , Das vierte Gebot ) und des Tirolers Karl Schönherr (1867 – 1943) ( Der Weibsteufel , Der Judas von Tirol ), die in der erdverhafteten Bauernwelt spielten. Das neue Volksstück geht andere Wege. Es spielt im Milieu von Kleinbürgertum und Arbeiterschaft und ist gesellschaftskritisch oder politisch orientiert. Ödon von Horváth Vorbild für die Autoren der Nachkriegszeit ist Ödön von Horváth (1901 – 1938), der Sohn eines ungarischen Diplomaten der Monarchie, der deutsch geschrieben hat und in Paris 1938 gestorben ist. Er hat die persönlichen Konflikte der „kleinen Leute“, ihre Neigung zum Sentimentalen wie zur Brutalität dargestellt. Das bekannteste Volksstück von Horváth sind die Geschichten aus dem Wiener Wald (1931). Mari- anne, die naive Tochter eines kleinen Spielwarenhändlers, des „Zauberkönigs“, ist dem einfältig- biederen Metzgermeister Oskar versprochen. Alfred, ein unverlässlicher Lebemann, verführt Mari- anne und nimmt sie bei sich auf, nachdem sie der Vater verstoßen hat. Marianne bekommt ein Kind. Alfred, der seine Geliebte wieder loswerden will, bringt Marianne mit Hilfe eines Freundes in einem Kabarett mit zweifelhaftem Ruf als Tänzerin unter und gibt das Kind zu seiner Mutter in die Wachau. Dort spielt der Schluss. Die Großmutter Alfreds hat das Kind so lange der Zugluft ausgesetzt, bis es an einer Lungenentzündung gestorben ist. Damit ist der Weg frei für ein vermeintliches Happyend. 1 5 10 15 20 Draußen in der Wachau. Die Großmutter sitzt in der Sonne, und die Mutter schält Erd- äpfel. Und der Kinderwagen ist nirgends zu sehen. DIE GROSSMUTTER: Frieda! Hast du ihr schon den Brief geschrieben? DIE MUTTER: Nein. DIE GROSSMUTTER: Soll ich ihn vielleicht schreiben? Stille . Da wir die Adress des lieben Herrn Alfred nicht kennen, müssen wir es doch ihr schreiben – DIE MUTTER: Ich schreib schon, ich schreib schon. – Sie werden uns noch Vorwürfe machen, dass wir nicht aufgepasst haben – DIE GROSSMUTTER: Wir? Du! Du, willst du wohl sagen! DIE MUTTER: Was kann denn ich dafür?! DIE GROSSMUTTER: War’s vielleicht meine Idee, das Kind in Kost zu nehmen?! Nein, das war deine Idee – weil du etwas Kleines, Liebes um dich hast haben wollen, hast du gesagt! Ich war immer dagegen. Mit so was hat man nur Scherereien! DIE MUTTER: Gut. Bin ich wieder schuld. Gut. Am Ende bin ich dann vielleicht auch daran schuld, dass sich der kleine Leopold erkältet hat – und dass er jetzt im Himmel ist?! Herrgott, ist das alles entsetzlich! DIE GROSSMUTTER: Vielleicht ist es ihr gar nicht so entsetzlich – ich meine jetzt dein Fräulein Mariann. – Man kennt ja diese Sorte Fräuleins – vielleicht wird das Fräulein sogar zufrieden sein, dass sie es los hat – DIE MUTTER: Mama! Bist du daneben?! Kleinbürgermilieu Gesellschaftlicher Druck Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=