Killinger Literaturkunde, Schulbuch

276 1 5 10 15 20 25 30 35 40 Grusche trägt ein Bündel und geht auf das Portal zu. Fast schon dort, wendet sie sich um, um zu sehen, ob das Kind noch da ist. Da beginnt der Sänger zu singen. Sie bleibt unbeweg- lich stehen. DER SÄNGER: Als sie nun stand zwischen Tür und Tor, hörte sie Oder vermeinte zu hören ein leises Rufen: das Kind Rief ihr, wimmerte nicht, sondern rief ganz verständig So jedenfalls war’s ihr. „Frau“, sagte es, „hilf mir.“ Und es fuhr fort, wimmerte nicht, sondern sprach ganz verständig: „Wisse, Frau, wer einen Hilferuf nicht hört Sondern vorbeigeht, verstörten Ohrs: nie mehr Wird der hören den leisen Ruf des Liebsten noch Im Morgengrauen die Amsel oder den wohligen Seufzer der erschöpften Weinp ücker beim Angelus 1 .“ Dies hörend Grusche tut ein paar Schritte auf das Kind zu und beugt sich über es ging sie zurück, das Kind Noch einmal anzusehen. Nur für ein paar Augenblicke Bei ihm zu sitzen, nur bis wer andrer käme – Die Mutter vielleicht oder irgendwer – Sie setzt sich dem Kind gegenüber, an die Kiste gelehnt Nur bevor sie wegging, denn die Gefahr war zu groß, die Stadt erfüllt Von Brand und Jammer. Das Licht wird schwächer, als würde es Abend und Nacht. Grusche ist in den Palast gegan- gen und hat eine Lampe und Milch geholt, von der sie dem Kinde zu trinken gibt. DER SÄNGER laut : Schrecklich ist die Verführung zur Güte! Grusche sitzt jetzt deutlich wachend bei dem Kind die Nacht durch. Einmal zündet sie die kleine Lampe an, es anzuleuchten, einmal hüllt sie es wärmer in einen Brokatmantel. Mit- unter horcht sie und schaut sich um, ob niemand kommt. DER SÄNGER: Lange saß sie bei dem Kinde Bis der Abend kam, bis die Nacht kam Bis die Frühdämmerung kam. Zu lange saß sie. Zu lange sah sie Das stille Atmen, die kleinen Fäuste Bis die Verführung zu stark wurde gegen Morgen zu Und sie aufstand, sich bückte und seufzend das Kind nahm Und es wegtrug. Sie tut, was der Sänger sagt, so, wie er es beschreibt. Wie eine Beute nahm sie es an sich Wie eine Diebin schlich sie sich weg. 4. Beschreiben Sie die Darstellungsweise Brechts im Vergleich zu einer traditionellen Theaterpro- duktion: • Erläutern Sie, wie hier Handlung vermittelt wird. 1 Angelus: Angelus-Gebet (Engel des Herrn) am Abend Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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