Killinger Literaturkunde, Schulbuch

268 Personales Erzählverhalten Das Geschehen wird aus der Sicht der Reflektorfigur (Franz K. Stanzel, vgl. Seite 244f.), also einer Figur der fiktiven Handlung, dargestellt. Wir begegnen einer Romanfigur, die denkt, fühlt, wahrnimmt, urteilt, aber nicht wie ein Erzähler zum Leser spricht. Dieses Erzählverhalten findet sich in vielen Romanen der Gegenwartsliteratur. Der Autor verzichtet auf eine Erzählerfigur mit erhöhtem Standort und Allwissenheit; er tauscht aber dafür größere Nähe zur Hauptfigur und psychologische Glaubwürdigkeit ein. Die Welt wird pluralistisch, sie ist letztlich ein Entwurf des Individuums. Die radikalste Form des personalen Erzählverhaltens stellt der innere Monolog dar. 25. Untersuchen Sie die Erzählperspektive des Textausschnittes: • Vergleichen Sie, was Sie wissen und was Josef K. weiß. • Erläutern Sie, aus welcher Sicht das Geschehen dargestellt wird. • Beschreiben Sie Ihre Stimmung beim Lesen dieses Ausschnitts. Josef K. wird von dem Fremden und einem zweiten Mann ins Gefängnis gebracht, ohne dass er weiß, warum. Sein Prozess wird verschleppt, er wird überhaupt nie vor einen Richter geführt. Am Schluss des Romans bringen zwei Herren K. vor die Stadt. 1 5 10 15 20 25 So kamen sie rasch aus der Stadt hinaus, die sich in dieser Richtung fast ohne Übergang an die Felder anschloss. Ein kleiner Steinbruch, verlassen und öde, lag in der Nähe eines noch ganz städtischen Hauses. Hier machten die Herren Halt, sei es, dass dieser Ort von allem Anfang an ihr Ziel gewesen war, sei es, dass sie zu erschöpft waren, um noch weiterzulau- fen. Jetzt ließen sie K. los, der stumm wartete, nahmen die Zylinderhüte ab und wischten sich, während sie sich im Steinbruch umsahen, mit den Taschentüchern den Schweiß von der Stirn. Überall lag der Mondschein mit seiner Natürlichkeit und Ruhe, die keinem ande- ren Licht gegeben ist. Nach Austausch einiger Hö ichkeiten hinsichtlich dessen, wer die nächsten Aufgaben aus- zuführen habe – die Herren schienen die Aufträge ungeteilt bekommen zu haben –, ging der eine zu K. und zog ihm den Rock, die Weste und schließlich das Hemd aus. K. fröstelte un- willkürlich, worauf ihm der Herr einen leichten, beruhigenden Schlag auf den Rücken gab. Dann legte er die Sachen sorgfältig zusammen, wie Dinge, die man noch gebrauchen wird, wenn auch nicht in allernächster Zeit. Um K. nicht ohne Bewegung der immerhin kühlen Nachtluft auszusetzen, nahm er ihn unter den Arm und ging mit ihm ein wenig auf und ab, während der andere Herr den Steinbruch nach irgendeiner passenden Stelle absuchte. Als er sie gefunden hatte, winkte er, und der andere Herr geleitete K. hin. Es war nahe der Bruchwand, es lag dort ein losgebrochener Stein. Die Herren setzten K. auf die Erde nieder, lehnten ihn an den Stein und betteten seinen Kopf obenauf. Trotz aller Anstrengung, die sie sich gaben, und trotz allem Entgegenkommen, das ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehr gezwungene und unglaubwürdige. Der eine Herr bat daher den anderen, ihm für ein Weilchen das Hinlegen K.s allein zu überlassen, aber auch dadurch wurde es nicht besser. Schließlich ließen sie K. in einer Lage, die nicht einmal die beste von den bereits erreichten Lagen war. Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes, beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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