Killinger Literaturkunde, Schulbuch

267 Die Parabel Die Parabel ist ihrem Wesen nach eine erzählende Kleinform. Sie kann aber auch in einem Drama auftreten (vgl. Lessings Ringparabel im Nathan , Seite 83ff.) und ebenso als „Gedankenlyrik“ (z. B. Goethes Gedichtzyklus Westöstlicher Divan ). Mitunter können sogar ein Roman (Kafka, Der Prozess ) oder ein Drama (Frisch, Biedermann und die Brandstifter ) als Parabel zu verstehen sein. Gleichnisse werden häufig im Neuen Testament verwendet, um Weisheiten deutlich zu machen. Jede Parabel hat zwei Ebenen, eine Erzählebene und eine Erkenntnisebene. Der Hauptgedanke wird in Form einer Geschichte ausgedrückt, die Botschaft ist jedoch eine philosophische. 22. Analysieren Sie die Parabel: • Heben Sie die Gegensätze hervor, die den ersten Satz beherrschen. • Kommentieren Sie, was er für den folgenden Text bedeutet. • Erläutern Sie, wo die Zweifel der Leser/innen am Erfolg der Sendung des Boten beginnen. • Analysieren Sie, wodurch die unendlich weite Entfernung zwischen dem Kaiser und dem Du ausgedrückt wird. 23. Halten Sie das äußere Geschehen (= die Fabel) so kurz wie möglich schriftlich fest (Präsens). 24. Formulieren Sie den Hauptgedanken der Parabel von Franz Kafka! I n den Jahren 1914/15 schrieb Kafka seinen Roman Der Prozess , er wurde aber erst 1925, kurz nach dem Tod des Autors, von seinem Freund Max Brod (1884 – 1968) veröffentlicht, der sich damit dem Wunsch Kafkas widersetzte, seine Werke nach seinem Tod zu vernichten. Der Roman beginnt mit einem Satz, der die Grundthematik des Textes vorwegnimmt. 1 5 10 15 Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermiete- rin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das, ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. „Wer sind Sie?“, fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen, und sagte bloß seinerseits: „Sie haben geläutet?“ „Anna soll mir das Frühstück bringen“, sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber dieser setzte sich nicht allzu lange seinen Blicken aus, sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jeman- dem, der offenbar hinter der Tür stand, zu sagen: „Er will, dass Anna ihm das Frühstück bringt.“ Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Ausweglosigkeit cc92yq GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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