Killinger Literaturkunde, Schulbuch

266 20. Analysieren Sie diesen Textabschnitt als Beispiel für expressionistische Epik nach den folgenden Gesichtspunkten: • Stellen Sie dar, auf welche Weise die Pest veranschaulicht wird. • Suchen Sie Vergleiche im Text. • Analysieren Sie, wodurch die übersteigerte Dynamik erreicht wird. • Kommentieren Sie, welche Wirkung der Schluss erzielt. 21. Vergleichen Sie diesen Abschnitt mit den Ausschnitten aus realistischen Novellen von Gottfried Keller (vgl. Seite 215ff.) hinsichtlich der sprachlichen und stilistischen Unterschiede. Franz Kafka Franz Kafka (1883 – 1924) stammte aus einer jüdisch-deutschen Familie in Prag. Er stand den Ideen und der Thematik des Expressionismus nahe, gehörte jedoch keiner Gruppierung an. Franz Kafka litt zeit seines Lebens unter seinem sehr dominanten Vater. Dieser Umstand erklärt auch, warum er in vielen seiner Werke Personen beschreibt, die unter einer ungreifbaren, alles beherrschenden Autorität leiden. Das gespannte Verhältnis zu seinem Vater hat er in seinem Text Brief an den Vater (1919) thematisiert. Kafka veröffentlichte zu Lebzeiten lediglich wenige Werke. Eines davon war der Text Eine kaiserliche Botschaft . Er ist, wie viele kurze Erzählungen Kafkas, eine Parabel, eine Art Gleichnis. 1 5 10 15 20 Franz Kafka Eine kaiserliche Botschaft (1917) Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne ge üchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zuge üstert; so sehr war ihm an ihr gele- gen, dass er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht, ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch die Menge; žndet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er iegen und bald wohl hörtest Du das herrli- che Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müsste er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußers- ten Tor – aber niemals, niemals kann das geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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