Killinger Literaturkunde, Schulbuch

265 tischen Drama die Szenen nur lose verknüpft und die Figuren typisiert, z. B. der Vater, der Sohn, die Tochter, das Weib, die Magd. Sie sind Träger von Ideen. Erzählende Dichtung des Expressionismus Die erzählerische Dichtung folgt den stilistischen Strömungen des Expressionismus. Der Text wird verknappt und temporeich erzählt. Prägnante Formulierungen und hastiger Stil prägen diese Werke. Beschauliche Betrachtung und psychologisierende Deutung stehen nicht im Mittelpunkt. Von einer Romanliteratur des Expressionismus kann man nur bedingt sprechen. Expressionistische Tendenzen lassen sich jedoch in vielen Werken des 20. Jahrhunderts nachweisen. Autoren wie Gottfried Benn, Franz Kafka und Alfred Döblin werden so zu Wegbereitern einer modernen Erzähltradition. Epische Kurzformen kommen dem Zeitstil entgegen, wenn auch verändert gegenüber der realisti- schen Tradition. In der Erzählung Das Schiff (1911) schildert Georg Heym, wie die Besatzung eines kleinen Frachtschiffes, das in der indonesischen Inselwelt kreuzt, an der Pest zugrunde geht: 1 5 10 15 20 Hinter dem Mastbaum stand etwas. Ein schwarzer Schatten. Jetzt kam es mit seinem schlürfenden Schritte über Deck. Jetzt stand es hinter dem Kajütendache 1 , jetzt kam es hervor. Eine alte Frau in einem altmodischen Kleid, lange weiße Locken želen ihr zu beiden Seiten in das blasse Gesicht. Darin steckten ein Paar Augen von unbestimmter Farbe wie ein Paar Knöpfe, die ihn unverwandt ansahen [...] Er wollte zurück, da war die Pest schon am anderen Ende der Rahe 2 . Und nun kam sie freischwebend auf dem Holze heran wie ein alter Matrose mit wiegendem Gang. Nun waren es nur noch sechs Schritte, nur noch fünf. Er zählte leise mit, während die Todesangst in einem gewaltigen Krampf seine Kinnbacken auseinander riss, als wenn er gähnte. Drei Schritte, zwei Schritte. Er wich zurück, griff mit den Händen in die Luft, wollte sich irgendwo festhalten, über- schlug sich und stürzte krachend auf das Deck, mit dem Kopf zuerst auf eine eiserne Plan- ke. Und da blieb er liegen, mit zerschmettertem Schädel. Ein schwarzer Sturm zog schnell im Osten über dem Stillen Ozean auf. Die Sonne verbarg sich in den dicken Wolken, wie ein Sterbender, der ein Tuch über sein Gesicht zieht. Ein paar große chinesische Dschunken 3 , die aus dem Halbdunkel herauskamen, hatten alle Se- gel gesetzt und fuhren rauschend vor dem Sturme einher mit brennenden Götterlampen und Pfeifengetön. Aber an ihnen vorbei fuhr das Schiff riesengroß wie der iegende Schatten ei- nes Dämons. Auf dem Deck stand eine schwarze Gestalt. Und in dem Feuerschein schien sie zu wachsen, und ihr Haupt erhob sich langsam über die Masten, während sie ihre gewalti- gen Arme im Kreise herumschwang gleich einem Kranich gegen den Wind. Ein fahles Loch tat sich auf in den Wolken. Und das Schiff fuhr geradewegs hinein in die schreckliche Helle. Epische Kurzformen 1 Kajüte: Wohn- und Schlafraum auf Schiffen 2 Rahe: waagrechte Stange am Mast eines Segelschiffes 3 Dschunke: chinesisches Segelschiff mit flachem Schiffsrumpf vx26p6 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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