Killinger Literaturkunde, Schulbuch

264 Wendla lässt sich jedoch von den Ausflüchten ihrer Mutter nicht abbringen zu fragen, was es mit der Entstehung des menschlichen Lebens auf sich hat. 1 5 10 15 20 25 Wendla Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! – Nun ich dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden. Frau Bergmann Ich kann nicht, Wendla. Wendla Oh, warum kannst du nicht, Mütterchen! – Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will geduldig ausharren, was immer kommen mag. Frau Bergmann Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! – Komm in Gottes Namen! – Ich will dir erzählen, Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen. – So hör mich an, Wendla... Wendla unter ihrer Schürze Ich höre. Frau Bergmann ekstatisch Aber es geht ja nicht, Kind! – Ich kann es ja nicht verantworten. – Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt – daß man dich von mir nimmt … Wendla unter ihrer Schürze Faß dir ein Herz, Mutter! Frau Bergmann So höre denn …! Wendla unter ihrer Schürze, zitternd O Gott, o Gott! Frau Bergmann Um ein Kind zu bekommen – du verstehst mich, Wendla? Wendla Rasch, Mutter – ich halt’s nicht mehr aus. Frau Bergmann Um ein Kind zu bekommen – muß man den Mann – mit dem man verhei- ratet ist... lieben – lieben sag’ ich dir – wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, – wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben , Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst … Jetzt weißt du’s. Wendla sich erhebend Großer – Gott – im Himmel! Frau Bergmann Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen! Wendla Und das ist alles? Frau Bergmann So wahr mir Gott helfe! [...] 2. Akt, 2. Szene 18. Beobachten Sie, wie die Mutter hier mit dem Thema Sexualität umgeht: • Zählen Sie die Begründungen der Mutter für ihr Verhalten auf. • Stellen Sie Vermutungen an, welche Gründe dahinterstecken könnten. • Illustrieren Sie, wie damit die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts charakterisiert wird. • Beschreiben Sie die Techniken der Mutter, um Wendlas Fragen nicht beantworten zu müssen. 19. Recherchieren Sie die weitere Entwicklung Wendlas und das Ende der Tragödie: • Umreißen Sie die Rolle der Mutter dabei. • Erläutern Sie die Reaktionen, die der Autor mit diesem Stück hervorrief. In der zweiten Phase des Expressionismus spielt neben der Lyrik das Drama eine wichtige Rolle. Es entstehen dramatische Skizzen und Einakter, aber auch einige bühnenwirksame, abendfüllende Dramen, zum Beispiel Die Bürger von Calais (1914) von Georg Kaiser (1878 – 1945) der darin den „neuen Menschen“ zeigt, welcher bereit ist, sich für andere zu opfern. Häufig sind im expressionis- Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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