Killinger Literaturkunde, Schulbuch

26 2 4 6 8 Walther von der Vogelweide Nemt, frouwe, disen kranz „Nemt, frouwe, disen kranz“, – alsô sprach ich z’einer wol getânen maget – „sô zieret ir den tanz mit den schœnen bluomen, als irs ûffe traget. het ich vil edele gesteine, da  müest ûf iur houbet, obe ir mirs geloubet. sêt mîne triuwe, da  ich  meine.“ 10 12 14 16 Si nam, da  ich ir bôt, einem kinde vil gelîch, da  êre hât. ir wangen wurden rôt, same diu rôse, dâ si bî der liljen stât. do erschamten sich ir liehten ougen. doch neic si mir vil schône; da  wart mir ze lône. wirt mirs iht mêr, da  trage ich tougen. 18 20 22 24 „Ir sît sô wol getân da  ich iu mîn schapel gerne geben wil, so ich  aller beste hân. wî  er unde rôter bluomen wei  ich vil. die stênt niht verre in jener heide. dâ si schône entspringent und die vogele singent, dâ suln wir si brechen beide.“ 26 28 30 32 Mich dûhte, da  mir nie lieber wurde, danne mir ze muote was. die bluomen vielen ie von dem boume bî uns nider an da  gras. seht, dô muost ich von fröiden lachen. dô ich sô wünneclîche was in troume riche, dô taget’ e  und muos’ ich wachen. „Nehmt, Herrin, diesen Kranz!“ So sagte ich zu einem schönen Mädchen. „Dann schmückt Ihr den Tanz mit den schönen Blumen in Euerm Haar. Hätt ich Gold und Edelstein, dann müssten sie auf Euer Haupt – wie Ihr mir glauben werdet. Wirklich, ich meine es ehrlich!“ Und sie nahm das Gebotene an wie ein junges Mädchen annimmt, das wohlerzogen ist: Sie errötete, und die Farbe der Rose kam zu der der Lilie. Scham ließ sie die Augen niederschlagen. Doch dankte sie und neigte zart den Kopf. Das war mein Lohn. Schenkt sie mir noch mehr dafür, dann werde ich das heimlich für mich behalten. „Ihr seid so schön, dass ich Euch meinen Kranz schenken muss – den schönsten, den ich hab. Ich weiß, wo viel weiße und rote Blumen stehn. Die stehn da fern auf jener Heide. Da wo sie blühen und die Vögel singen, da wollen wir sie brechen.“ Mir schien, dass ich nie glücklicher war als da. Und immerfort rieselten die Blüten der Bäume zu uns nieder aufs Gras. Ja seht – da musste ich lachen in all meinem Glück, als ich so wunderbar im Traum beschenkt wurde, da kam der Tag und weckte mich. N r zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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