Killinger Literaturkunde, Schulbuch

259 politischen Programmen die Verwirklichung ihrer Träume. Pazifismus, Nationalismus, Faschismus, Sozialismus, Kommunismus – in allen Lagern finden sich Expressionisten. Der „ideale Aktivismus“ der Anfangsphase wird von Parteien aufgesogen. Trotz aller politischen Aktivismen hat der Expressionismus eine revolutionäre Veränderung der ge- sellschaftlichen Wirklichkeit nicht ernsthaft versucht. Bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geht der expressive Schwung endgültig verloren. Die großen Ziele, nämlich eine neue geistige Welt, die Erneuerung des Menschen und eine neue Sinngebung des Daseins in brüderlicher Menschenwürde, können vor der Wirklichkeit nicht bestehen, geschweige denn sie ändern. Der „permanente Schrei“ kann nicht durchgehalten werden. Die Hauptmotive expressionistischer Dichtung sind nicht grundsätzlich neu, doch werden sie neu gesehen und gestaltet. Im Mittelpunkt steht der vereinsamte, leidende Mensch in seiner Ausgesto- ßenheit und Angst. Gedichte über Wahnsinnige, Selbstmörder und Gefangene sind häufig. Der Tod, verbunden mit dem Grauen, beschäftigt viele Dichter. Die „Morgue“, das Leichenschauhaus für Selbstmörder und unbekannte Tote, inspiriert mehrere Dichter, besonders in ihrer Jugend. Die Un- tergangsstimmung hängt mit dem Motiv des Todes zusammen; Abend, Dämmerung, Herbst, Winter (vielfach Todessymbole) prägen viele Gedichte. Hier reiht sich auch die Stadt als Ort der Bedrohung, der Sünde, des Todes oder der Dämonen und des rasenden sinnlosen Lebens ein. Die Dichtung des Expressionismus kennt nur innerlich geschaute Wahrheiten. Die oft übersteigerten, dynamischen Bilder lösen sich von der Wirklichkeit und der überkommenen Ästhetik. Jede expressive Dichtung muss als visionäre Schau verstanden werden. Um sein subjektives Weltbild ausdrücken zu können, verwendet der Dichter Symbole und Chiffren. Ein Musterbeispiel ist die Wiedergabe der Farben. Sowohl in der Malerei als auch in der Dichtung werden Farben zu Symbolen. Die Farbe wird von der optischen Erfahrung losgelöst und zum reinen Vokabel des Gefühlsausdrucks. Nachhallen die purpurnen Flüche Des Hungers in faulendem Dunkel ... Georg Trakl, Vorhölle Jener aber ging die steinernen Stufen des Mönchsbergs hinab, Ein blaues Lächeln im Antlitz und seltsam verpuppt In seine stillere Kindheit und starb ... Georg Trakl, An einen Frühverstorbenen Eine wesentliche Rolle in der Gestaltung des visionären Expressionismus spielt die Metaphorik, das sprachliche Bild. Es werden die Mittel der Allegorie und der Personifikation verwendet: Ideen und Phantasien werden als Figuren, als lebendige, oft dämonische Wesen dargestellt. Auch leblose Dinge werden aktiv und lebendig und tragen zur Verfremdung des Dargestellten bei. Die Sprache des Expressionismus lebt vor allem in der Bildhaftigkeit und heftigen Bewegung, die durch ausdrucksvolle Verben erzielt wird: Und manchmal wird ein Mensch vorbeigeweht, Den hinten groß sein schwarzer Schatten schlägt. Georg Heym, Die Nacht I Der leidende Mensch Symbole und Chiffren Allegorie und Personifikation Bildhafte Sprache 5at62h GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 Nur u Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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