Killinger Literaturkunde, Schulbuch

258 Daneben werden zahlreiche Anthologien 1 und Gedichtbände mit bezeichnenden Titeln veröffent- licht: Der ewige Tag (Georg Heym), Der Aufbruch (Ernst Stadler) und Der Mensch schreit (Albert Ehrenstein). Das Ziel war die Formung der Erlebnisse des intellektuellen Städters. Kurt Hiller sagt dazu in einem Vortrag im Jahre 1911: Wir sind Expressionisten. Es kommt uns auf das Wollen, das Ethos an. Trotz der Unterschiede in den Anliegen, in der Gestaltung und in der Sprache expressionistischer Werke lassen sich Gemeinsamkeiten finden. Gemeinsam ist den Expressionisten das Erlebnis einer in- neren Krise in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ausgehend von Nietzsches Kulturkritik, verwerfen die jungen Dichter das positivistische, naturwissenschaftlich orientierte Weltbild. Der Protest gegen das selbstzufriedene, in alten Autoritätsstrukturen erstarrte Bürgertum, oft als Vater-Sohn-Konflikt dargestellt, findet sich bei fast allen Expressionisten. Die Krisenstimmung lässt den Menschen gefähr- det, bedroht und haltlos erscheinen. Leidenschaftlich und mit Pathos versuchen die Expressionisten gegen den Fortschrittsglauben und das Spießbürgertum anzukämpfen. Georg Heym (1887–1912) notiert in seinem Tagebuch: 1 5 Mein Gott – ich ersticke noch mit meinem brachliegenden Enthusiasmus in dieser banalen Zeit ... Ich hoffe jetzt wenigstens auf einen Krieg ..., ich aber, der Mann der Dinge, ich, ein zerrissenes Meer, ich, immer im Sturm, ich, der Spiegel des Außen, ebenso wild und chao- tisch wie die Welt, ich, leider so geschaffen, dass ich ein ungeheures, begeistertes Publikum brauche, um glücklich zu sein, krank genug, um mir nie selbst genug zu sein, ich wäre mit einem Male gesund, ein Gott, erlöst, wenn ich irgendwo eine Sturmglocke hörte, wenn ich die Menschen herumrennen sähe mit angstzerfetzten Gesichtern ... 13. Diskutieren Sie, was für Heym eine Bedrohung seiner Existenz ist und kommentieren Sie, was das Paradoxe daran ist. Ebenso wie der Aufschrei, das Pathos, das Ankämpfen gegen eine Zeit, die sie zutiefst ablehnen, ist den jungen Expressionisten die Suche nach neuen Werten, die Sehnsucht nach einem neuen Menschen, einer großen Verbrüderung gemeinsam. Neues Engagement, die Forderung nach einer besseren Menschheit und die unbedingte Hingabe an ein Ideal sind typisch für den frühen Expres- sionismus. Bei allen diesen Bestrebungen steht das Ich im Mittelpunkt, und die Welt erscheint nur im Bezug zu diesem Ich-Bewusstsein interessant. Die Auseinandersetzung erfolgt mit dem eigenen Ich, nicht mit der objektiven Wirklichkeit. Die äußere Wirklichkeit ist höchstens auslösendes Moment für die visionäre Umgestaltung. Insofern ist der Expressionismus, die „Ausdruckskunst“, ein Gegenpol zum Impressionismus, der „Eindruckskunst“, die eine unreflektierte, objektive Bilderwelt schaffen will. Nach dem ersten Kriegsjahr (1915) setzt eine Ernüchterung ein. Eine Reihe von Expressionisten ist sehr jung gestorben oder gefallen. Die meisten Dichter lehnen den Krieg nun ab. Die Sehnsucht nach dem neuen, besseren Menschen wächst; das „O Mensch“-, „O Bruder“-Pathos steigert sich. Das große einheitliche Gefühl der ersten Jahre splittert sich auf. Die Dichter suchen in unterschiedlichen Vater-Sohn-Konflikt Auseinandersetzung mit dem Ich 1 Anthologie: Sammlung verschiedener Texte (vor allem von Gedichten), meist von mehreren Autorinnen und Autoren, mit dem Ziel, einen Überblick über die Epoche oder eine Richtung zu geben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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