Killinger Literaturkunde, Schulbuch

257 (1871 – 1922) in seinem Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die chronologische Zeitfolge und machte die Vergangenheit durch assoziative Erinnerungen zur Gegenwart. Darüber hinaus waren Sigmund Freuds Theorien nach wie vor wirksam. Die Romanschriftsteller/ innen schreiben in dem Bewusstsein, dass unser Bewusstseinsstrom und unsere Intentionen nicht nur von Eindrücken der Außenwelt, sondern auch vom eigenen Unbewussten gesteuert werden (vgl. Seite 210). Der Ire James Joyce (1882 – 1941) bricht in seinem Hauptwerk Ulysses (ab 1918) gänzlich mit der überkommenen Form des erzählenden Romans: Er gestaltet ein umfassendes Bild des menschlichen Bewusstseins, indem er auf rund tausend Seiten vierundzwanzig Stunden aus dem Leben eines Durchschnittsbürgers darstellt, wobei in jedem Kapitel die Perspektive und die Erzählweise wechseln. Joyce hat in seinem Roman nicht nur Bergsons neuen Zeitbegriff, sondern auch Freuds Lehre vom Unbewussten verarbeitet. DER ExpREss IonI sMus Abgesehen von einigen Vorläufern in der Malerei, Paul Gauguin (1848 – 1903) und Vincent van Gogh (1853 – 1890), und einigen expressiven Stellen in einzelnen dichterischen Werken tritt der Expressionismus in der Literatur und in der bildenden Kunst etwa gleichzeitig auf. In den Jahren 1910 und 1911 werden junge Künstler, Maler und Dichter, in verschiedenen Teilen des deutschen Sprachraums von ähnlichen Gefühlen und Empfindungen beherrscht. Ohne sich viel um literarische Vorbilder zu kümmern und ohne sich von den Strömungen der Zeit, dem Naturalismus, dem Impres- sionismus und dem Ästhetizismus, beeinflussen zu lassen, versuchen sie einen neuen Weg zu finden. In Berlin entstehen in diesen Jahren ebenso wie in München, Frankfurt, Leipzig, Prag, im Elsass und in Österreich expressionistische Texte. Expressionistische Maler schließen sich in Dresden 1909 zur Vereinigung „Die Brücke“ zusammen, 1912 sammelt sich in München die expressive Gruppe „Der blaue Reiter“ unter der Führung von Wassily Kandinsky (1866 – 1944) und Franz Marc (1880 – 1916). Ähnlich wie die Dichter versuchen die Maler nicht die Natur wiederzugeben, sondern seelische Empfindungen und subjektive Ideen mit Hilfe von Symbolen und Farbchiffren dar- zustellen. Die expressionistische Malerei wendet sich gegen die „Fratze der Wirk- lichkeit“ und will nicht das „Schmuck- bedürfnis des bürgerlichen Haushaltes“ befriedigen. Kennzeichnend ist das Zusammengehö- rigkeitsgefühl der Expressionisten, nicht nur der Maler, sondern auch der Litera- ten. Sie bilden Vereinigungen, schreiben Programme und schaffen sich Sprachrohre: 1910 erscheint in Berlin die erste expressionistische Zeitschrift, Der Sturm . Weitere Zeitschriften sind Die Aktion und Der Brenner , der seit 1910 von Ludwig von Ficker (1880 – 1967) in Innsbruck herausgegeben wird. Bewusstseins- stromtechnik Vereinigung der Maler und Literaten Franz Marc, Rotes und blaues Pferd ; 1912, Tempera, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München t9k2tp GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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