Killinger Literaturkunde, Schulbuch

256 15 20 25 30 35 »Seit mehreren Jahren«, donnerte der Ephorus ihn an, »ist eine solche Sache hier nicht mehr vorgekommen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie noch in zehn Jahren daran denken sollen. Euch andern stelle ich diesen Heilner als abschreckendes Beispiel auf.« Die ganze Promotion schielte scheu zu ihm hinüber, der blaß und trotzig dastand und dem Blick des Ephorus nicht auswich. Im stillen bewunderten ihn viele, trotzdem blieb er am Ende der Lektion, als alles lärmend die Gänge erfüllte, allein und gemieden wie ein Aussät- ziger. Es gehörte Mut dazu, jetzt zu ihm zu stehen. Auch Hans Giebenrath tat es nicht. Es wäre seine P icht gewesen, das fühlte er wohl, und er litt am Gefühl seiner Feigheit. Unglücklich und schamhaft drückte er sich in ein Fens- ter und wagte nicht aufzublicken. Es trieb ihn, den Freund aufzusuchen, und er hätte viel darum gegeben, es unbemerkt tun zu können. Aber ein mit schwerem Karzer Bestrafter ist im Kloster für längere Zeit so gut wie gebrandmarkt. Man weiß, daß er von nun an besonders beobachtet wird und daß es gefährlich ist und einen schlechten Ruf einträgt, mit ihm Verkehr zu haben. Den Wohltaten, welche der Staat seinen Zöglingen erweist, muß eine scharfe, strenge Zucht entsprechen, das war schon in der großen Rede beim Eintrittsfeste vorgekommen. Auch Hans wußte das. Und er unterlag im Kampf zwischen Freundesp icht und Ehrgeiz. Sein Ideal war nun einmal, vorwärts zu kommen, berühmte Examina 1 zu machen und eine Rolle zu spielen, aber keine romantische und gefährliche. So verharrte er ängstlich in seinem Winkel. Noch konnte er hervortreten und tapfer sein, aber von Au- genblick zu Augenblick wurde es schwerer, und eh er sich’s versah, war sein Verrat zur Tat geworden. Heilner bemerkte es wohl. Der leidenschaftliche Knabe fühlte, wie man ihm auswich, und begriff es, aber auf Hans hatte er sich verlassen. Neben dem Weh und der Empörung, die er jetzt empfand, kamen ihm seine bisherigen, inhaltlosen Jammergefühle leer und lächerlich vor. Einen Augenblick blieb er neben Giebenrath stehen. Er sah blaß und hochmütig aus und sagte leise: »Du bist ein gemeiner Feigling, Giebenrath – pfui Teufel!« Und damit ging er weg, halblaut pfeifend und die Hände in den Hosensäcken. 12. Konzentrieren Sie sich in diesem Abschnitt auf den Charakter der Hauptfigur Hans: • Stellen Sie dar, in welchem Zwiespalt sich Hans befindet. • Stellen Sie gegenüber, wie seine Entscheidung von seiner Umgebung gefordert und wie sie aufgenommen wird. • Diskutieren Sie, welches soziale Grundphänomen mit diesem Vorfall angesprochen wird. Für die weitere Entwicklung des literarisch anspruchsvollen Romans wurden die Philosophie Berg- sons und die Psychoanalyse Freuds bedeutungsvoll. Der Franzose Henri Bergson (1859 – 1941) entwickelte einen neuen Zeitbegriff: Wir finden in uns eine ganz andere Wirklichkeit als die von der Physik messbaren Erscheinungen in Raum und Zeit. Die innere Wirklichkeit ist in beständigem Fluss; sie ist nie, sondern wird immerfort, wobei das Ver- gangene andauernd durchschlägt. Der Mensch ist ein Prozess. Er ist auf das Künftige ausgerichtet und mit dem Gepäck seiner Vergangenheit belastet. Die modernen Romanschriftsteller übernahmen den gelebten Zeitbegriff Bergsons: Nicht mehr Zeigermaß und Kalender ergeben die Struktur des Romans, sondern Zukünftiges, Gegenwärtiges und Vergangenes werden vermischt. Das Bewusstsein ist ein Kaleidoskop aus Gewesenem, Gegen- wärtigem und Vorweggenommenem. In diesem Sinn zertrümmerte der Franzose Marcel Proust Weiterentwicklung des Romans 1 Examina: Prüfungen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=