Killinger Literaturkunde, Schulbuch

254 In seiner Novelle Der Tod in Venedig (1912) lässt er die Hauptfigur, den Schriftsteller Gustav Aschen- bach, nach Venedig reisen. Auf dieser Reise, von der er nicht mehr zurückkehren wird, begegnen ihm verschiedenste Gestalten, die ihn an den Tod erinnern (Charonsgestalten 1 ) und die sein Schicksal vorwegnehmen. 1 5 10 Einer, in hellgelbem übermodisch geschnittenem Sommeranzug, roter Krawatte und kühn aufgebogenem Panama 2 , tat sich krähender Stimme an Aufgeräumtheit vor allen andern hervor. Kaum aber hatte Aschenbach ihn ein wenig genauer ins Auge gefaßt, als er mit einer Art von Entsetzen erkannte, daß der Jüngling falsch war. Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen Strohhut Perücke, sein Hals verfallen und sehnig, sein aufgesetztes Schnurrbärtchen und die Fliege am Kinn gefärbt, sein gelbes und vollzähliges Gebiß, das er lachend zeigte, ein billiger Ersatz, und seine Hände, mit Siegelringen an beiden Zeigežngern, waren die eines Greises. Schauerlich angemutet sah Aschenbach ihm und seiner Gemeinschaft mit den Freunden zu. 10. Beobachten Sie, wie Aschenbach auf einem Boot diesen Figuren begegnet: • Analysieren Sie, welche Aspekte diese Figur zu einer Charonsgestalt machen. • Beschreiben Sie, wie Aschenbach auf diesen Anblick reagiert. Schließlich verliebt sich Aschenbach in einen polnischen Jüngling, Tadzio, dem er durch die Stadt folgt und dessentwegen er auch in Venedig bleibt, als eine Seuche ausbricht, die ihn schließlich hinwegrafft. 1 5 10 15 Neuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen der Tagesregel und dem Glücke zu danken; er verfolgte ihn, er stellte ihm nach. Sonntags zum Beispiel erschienen die Polen niemals am Strande; er erriet, daß sie die Messe in San Marco besuch- ten, er eilte dorthin, und aus der Glut des Platzes in die goldene Dämmerung des Heilig- tums eintretend, fand er den Entbehrten, über ein Betpult gebeugt beim Gottesdienst. Dann stand er im Hintergrunde, auf zerklüftetem Mosaikboden, inmitten knieenden, murmeln- den, kreuzschlagenden Volkes, und die gedrungene Pracht des morgenländischen Tempels lastete üppig auf seinen Sinnen. Vorn wandelte, hantierte und sang der schwergeschmückte Priester, Weihrauch quoll auf, er umnebelte die kraftlosen Flämmchen der Altarkerzen, und in den dumpfsüßen Opferduft schien sich leise ein anderer zu mischen: der Geruch der er- krankten Stadt. Aber durch Dunst und Gefunkel sah Aschenbach, wie der Schöne dort vorn den Kopf wandte, ihn suchte und ihn erblickte. Wenn dann die Menge durch die geöffneten Portale hinausströmte auf den leuchtenden, von Tauben wimmelnden Platz, verbarg sich der Betörte in der Vorhalle, er versteckte sich, er legte sich auf die Lauer. Er sah die Polen die Kirche verlassen, sah, wie die Geschwister sich auf zeremoniöse Art von der Mutter verabschiedeten und wie diese sich heimkehrend zur Piazzetta wandte; er stellte fest, daß der Schöne, die klösterlichen Schwestern und die Gouvernante den Weg zur Rechten durch das Tor des Uhrturmes und in die Merceria 1 Charon: der Fährmann, der in der antiken Mythologie die Toten ins Totenreich übersetzt 2 Panama: Panama-Hut, Sonnenhut Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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