Killinger Literaturkunde, Schulbuch

250 Geschaute, die besondere Wirklichkeit des Augenblicks, möglichst genau wiederzugeben. In dieser reinsten Form, in der nur die Farbe und nicht die Kontur entscheidet, ist es nur dem Maler möglich, impressionistische Kunst zu schaffen. Die Reflexion, die geistige Erfahrung, wird ausgeschaltet. Der Maler gibt zwar ein Bild der Wirklichkeit wieder – insofern zeigt sich eine Verbindung zum Natu- ralismus –, doch er gestaltet einen momenthaften Seheindruck. Die Erfindung der Photographie hat den Künstler davon befreit, die Wirklichkeit realistisch darstellen zu müssen. Der flüchtige Ge- samteindruck, die Farbe und das Licht sind wichtig, nicht die genaue Zeichnung von Details. Das künstlerische Ich als Medium will die augenblicklichen Eindrucksreize und Stimmungen möglichst vollkommen wiedergeben. Das Bestreben, flüchtige Stimmungen und Augenblickserscheinungen festzuhalten, erklärt die Vorliebe für kurze Formen, wie Gedichte, Einakter, Essays, Skizzen und kleine Erzählungen. Großer Einfluss auf die impressionistische Schreibweise des Wiener Kreises ist von dem Wiener Phy- siker und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach (1838 – 1916) ausgegangen. 1885 definierte Mach die Körper als nur relativ beständige Komplexe von „Farben, Tönen und Drücken“. Auch dem menschlichen Ich wird nur eine relative Beständigkeit zuerkannt. Die Einheit der Persönlichkeit ist ein Komplex von Erinnerungen, Wahrnehmungen und Gefühlen, die sich ständig verändern. Mach hat besonders auf Hermann Bahr und Peter Altenberg (1859 – 1919) eingewirkt. Altenberg vertritt in seinen Werken die Ansicht, dass nichts endgültig existiere und nur die Veränderung und das Un- geordnete lebendig seien. Grundsätzlich ist zu fragen, wie weit Dichtung impressionistisch gestaltet werden kann. Die Sprache kann nicht im gleichen Maß wie die Farbe einen augenblicklichen Eindruck vermitteln; denn in der Sprache steckt viel Begrifflichkeit und Reflexion. Sprache ist vor allem dazu geeignet, Bedeutungen zu vermitteln. Sie kann keine Wahrnehmungen auslösen, sondern nur Vorstellungen. Es ist fast unmöglich, Farbschattierungen und Formen eines bestimmten Gegenstandes in Sprache exakt wie- derzugeben. Daher kann ein Dichter nur in kurzen Abschnitten oder Wendungen impressionistisch sein. Der Impressionismus ist nicht zu einer Literaturepoche im eigentlichen Sinn geworden; doch sind impressionistische Züge in allen Gegenbewegungen zum Naturalismus zu finden. Ein kennzeichnendes Stilmerkmal des Impressionismus ist die offene Haltung des Dichters. Die Ein- drücke fließen ihm zu, die Bilder sind keiner auf irgendeine Absicht gerichteten Idee untergeordnet. Manchmal werden die Eindrücke, die auf den Dichter einströmen, in sprachlichen Bildern ohne syntaktische Bindung und semantische 1 Verknüpfung aneinandergereiht. 2 4 6 Hugo von Hofmannsthal Prolog zu dem Buch Anatol (1892) Hohe Gitter, Taxushecken 2 , Wappen nimmermehr vergoldet, Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd ... ... Knarrend öffnen sich die Tore. – Mit verschlafenen Kaskaden und verschlafenen Tritonen 3 , Rokoko 4 , verstaubt und lieblich, Ständiger Wandel allen Seins 1 Semantik: Lehre von der Bedeutung der Wörter 2 Taxushecke: immergrüner Baum 3 Tritonen: Meergötter im Gefolge des Poseidon 4 Rokoko: Stilepoche im 18. Jahrhundert, gekennzeichnet durch zarte Farben und Verzierungen N r z Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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