Killinger Literaturkunde, Schulbuch

247 Goethe meinte, das Symbol sei die Natur der Poesie; denn es verwandle Ideen in Bilder: Ein „Allgemeines“ (z. B. die Reinheit) werde in einem „Besonderen“ (in der weißen Lilie) erfasst. In der modernen Dichtung, vor allem in der Lyrik, wandelt sich das Symbol zu einem Wort, dem der Dichter im Rahmen seines Textes eine neue, nicht übliche Bedeutung zumisst. Da die neue, verschlüsselte Bedeutung nicht immer sofort klar wird, hat man für solche Worte den Begriff Chiffre gewählt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Rainer Maria Rilke Das Karussell (1906) Jardin du Luxembourg 1 Mit einem Dach und seinem Schatten dreht sich eine kleine Weile der Bestand von bunten Pferden, alle aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht. Zwar manche sind an Wagen angespannt, doch alle haben Mut in ihren Mienen; ein böser roter Löwe geht mit ihnen und dann und wann ein weißer Elefant. Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald, nur dass er einen Sattel trägt und drüber ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt. Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge und hält sich mit der kleinen heißen Hand, dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge. Und dann und wann ein weißer Elefant. Und auf den Pferden kommen sie vorüber, auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge schauen sie auf, irgendwohin, herüber – Und dann und wann ein weißer Elefant. Und das geht hin und eilt sich, dass es endet, und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel. Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet, ein kleines kaum begonnenes Prožl – . Und manches Mal ein Lächeln, hergewendet, ein seliges, das blendet und verschwendet an dieses atemlose blinde Spiel ... 1 Jardin du Luxembourg: Park im Pariser Quartier Latin 6jg44k GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=