Killinger Literaturkunde, Schulbuch

246 DER syMBoL I sMus Der Symbolismus ist nicht auf einige wenige Dichter oder einen begrenzten Zeitraum zu beschrän- ken; schon bei Conrad Ferdinand Meyer finden sich symbolistische Gedichte, und sie tauchen in der Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg, fast hundert Jahre später, wieder auf. Als Wegbereiter der symbolistischen Dichtung gelten die Franzosen Charles Baudelaire (1821 – 1867), Paul Verlaine (1844 – 1896) und Stéphane Mallarmé (1842 – 1898), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts gegen den französischen Naturalismus auftraten und in ihren Gedichten nicht die reale Wirklichkeit der verachteten bürgerlichen Welt ausdrücken, sondern eine autonome Welt der Kunst schaffen wollten, die durch symbolhafte Zeichen erahnbar wird. Die poésie pure (absolute Dichtung) dient keinem fremden Zweck, weder politischen noch sozialen Zielen, sie ist sich selbst genug (l’art pour l’art 1 ). In der deutschen Literatur nach der Jahrhundertwende zeigt sich die symbolistische Darstellungsweise besonders bei Stefan George (1868 – 1933), Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke ausgeprägt. In dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) heißt es: Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. In den Dinggedichten ist für Rilke das Dichten nicht ein Bereden von Empfindungen, sondern das Umsetzen von Daseinsformen in Sprache: „Diesen Baum so auszudrücken, dass ich nur noch ihn sprechen ließe.“ Er möchte Dinge und Erscheinungen aus der Zufälligkeit der Wahrnehmung befrei- en und zu zeitloser Dauer gestalten. Dinge vergehen, aber das Kunst-Ding hat nach Rilke Anspruch auf Ewigkeit. In einem Brief aus dem Jahr 1903 schreibt er: Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muss noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit. Darin liegt das ganze Programm Rilkes: Sein „imaginativer Symbolismus“ möchte die Dinge aus ihrer alltäglichen Umklammerung lösen, die „Wesenheit“ ihrer Erscheinung im ästhetischen Gebilde begreiflich machen und sie so in die Allgemeingültigkeit heben. Worte bewirken, dass Dinge und Erscheinungen zeitlose Gültigkeit gewinnen. Symbole Sie sind bildhafte Zeichen, die abstrakte Vorstellungen veranschaulichen. Etwas schwer Sagbares durch ein Symbol auszudrücken, ist in vorliterarischer Zeit verbreiteter gewesen als heute. Von den Sonnensymbolen in fast allen Kulturen über die Legionszeichen im römischen Heer bis zum Kreuzzeichen des Christentums lassen sich unzählige Symbole nachweisen. Im Minnesang stehen der „meie“ für Lebensfreude und Glück, die „rose“ für die liebende Frau und der „valke“ für den jungen Ritter. Französische Vorbilder Gedichte drücken die Wesenheit der Dinge aus 1 l’art pour l’art: die Kunst als Selbstzweck Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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