Killinger Literaturkunde, Schulbuch

245 „dummen Buben“ nennt. Nach dem Ehrenkodex der Offiziere ist es nicht möglich, sich mit einem Handwerker zu duellieren und so seine Ehre wiederherzustellen. Gustl bleibt nur der Selbstmord. Er geht im Prater spazieren und meditiert 1 : 1 5 10 15 20 25 [...] – jetzt ist es ja doch alles eins ... Warum denn? – Ja, ich weiß schon: sterben muss ich, darum ist es alles eins – sterben muss ich ... Also wie? – Schau, Gustl, du bist doch extra da herunter in den Prater gegangen, mitten in der Nacht, wo dich keine Menschenseele stört – jetzt kannst du dir alles ruhig überlegen ... Das ist ja lauter Unsinn mit Amerika und quit- tieren 2 , und du bist ja viel zu dumm, um was anderes anzufangen – und wenn du hundert Jahr alt wirst, und du denkst dran, dass dir einer hat den Säbel zerbrechen wollen und dich einen dummen Buben geheißen, und du bist dag’standen und hast nichts tun können – nein, zu überlegen ist da gar nichts – die werden’s schon verschmerzen – man verschmerzt alles ... Wie hat die Mama gejammert, wie ihr Bruder gestorben ist – und nach vier Wochen hat sie kaum mehr dran gedacht ... auf den Friedhof ist sie hinausgefahren ... zuerst alle Wochen, dann alle Monat – und jetzt nur mehr am Todestag. – – Morgen ist mein Todestag – fünfter April – – Ob sie mich nach Graz überführen? Haha! da werden die Würmer in Graz eine Freud’ haben! – Aber das geht mich nichts an – darüber sollen sich die andern den Kopf zerbrechen ... Also, was geht mich denn eigentlich an? ... Ja, die hundertsechzig Gulden für den Ballert – das ist alles – weiter brauch ich keine Verfügungen zu treffen. – Briefe schrei- ben? Wozu denn? An wen denn? ... Abschied nehmen? – Ja, zum Teufel hinein, das ist doch deutlich genug, wenn man sich totschießt! – Dann merken’s die andern schon, dass man Abschied genommen hat ... Wenn die Leut’ wüssten, wie egal mir die ganze Geschichte ist, möchten sie mich gar nicht bedauern – ist eh’ nicht schad’ um mich ... Und was hab’ ich denn vom ganzen Leben gehabt? – Etwas hätt’ ich gerne noch mitgemacht: einen Krieg – aber da hätt’ ich lang’ warten können ... Und alles Übrige kenn’ ich ... Ob so ein Mensch Stefž oder Kunigunde heißt, bleibt sich gleich. – – Und die schönsten Operetten kenn’ ich auch – und im Lohengrin bin ich zwölfmal drin gewesen – und heut’ Abend war ich sogar in einem Oratorium – und ein Bäckermeister hat mich einen dummen Buben gehei- ßen – meiner Seel’, es ist grad’ genug! – Und ich bin gar nimmer neugierig ... – Also geh’n wir nach Haus, langsam, ganz langsam ... Eile hab’ ich ja wirklich keine. – Noch ein paar Minuten ausruhen da im Prater, auf einer Bank – obdachlos. – Ins Bett leg’ ich mich ja doch nimmer – hab’ ja genug Zeit zum Ausschlafen. – – Ah, die Luft! – Die wird mir abgeh’n ... 4. Analysieren Sie anhand dieses Textausschnitts Schnitzlers Gestaltungsweise: • Finden Sie Beispiele für stilistische Eigenheiten des inneren Monologs. • Kommentieren Sie, welche Wirkung damit erzielt wird. • Besprechen Sie, was über den Tod und das Sterben gesagt wird. • Diskutieren Sie, welche Einstellung Gustl dem Leben, der Familie, den Frauen, den Freunden und dem Krieg gegenüber hat. 1 meditiert: sinnt nach, denkt nach 2 quittieren: den Militärdienst kündigen kq99wp GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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