Killinger Literaturkunde, Schulbuch

242 10 15 žnden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren. Ihr Determinismus 1 wie Ihre Skep- sis 2 – was die Leute Pessimismus heißen –, Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbe- wussten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität 3 von Lieben und Sterben, das alles berührt mich mit einer unheimlichen Vertrautheit. (In einer kleinen Schrift vom Jahr 1920, „Jenseits des Lustprinzips“, habe ich versucht, den Eros 4 und den Todestrieb als die Urkräfte aufzuzeigen, deren Gegenspiel alle Rätsel des Lebens beherrscht.) So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahr- nehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja ich glaube, im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und unerschrocken, wie nur je einer war, und wenn Sie das nicht wä- ren, hätten Ihre künstlerischen Fähigkeiten, Ihre Sprachkunst und Gestaltungskraft, freies Spiel gehabt und Sie zu einem Dichter weit mehr nach dem Wunsch der Menge gemacht. Sexualität und Todesfurcht sowie deren Verdrängungen bilden die Grundthemen der Werke Arthur Schnitzlers. Der Tod wird bei Schnitzler nicht ästhetisiert, er ist schrecklich und unbegreiflich, die letzte und einzige Wahrheit im Theater des Lebens. Die Ambivalenz der menschlichen Existenz, die Ich-Versponnenheit, die keine echte Kommunikation zulässt (Narzissmotiv 5 ), die Sprache als gesell- schaftliche Form der Lüge sind weitere Grundthemen seiner Dichtung. Der Gleichklang in der Liebe und in der Freundschaft wird immer ersehnt, aber nie erreicht (z. B. im Anatol -Zyklus). Im Dialog, in den Worten, die gesprochen werden und die nicht gesprochen werden, entlarvt der Dichter die hinter allem stehende, oft nur mühsam überspielte Triebhaftigkeit und Banalität 6 der Figuren. In der Leichtfertigkeit der Gesellschaft sieht Schnitzler die Keime der sich anbahnenden Katastrophe. Bei aller Schärfe der Kritik fehlt aber eine Verurteilung. Das Mitleid mit den handelnden Figuren, das Verstehen ihrer Handlungen steht immer im Vordergrund. In der Szene „Weihnachtseinkäufe“ des Anatol -Zyklus (Erstaufführung 1898) zeigt sich Schnitzler als Meister des Dialogs. Anatol trifft Gabriele zufällig in der Stadt. Er will ein Weihnachtsgeschenk kaufen, und sie erklärt sich bereit, ihn bei der Auswahl zu beraten. 1 5 10 GABRIELE: (...) Für wen soll Ihr Geschenk gehören? ANATOL: ... Das ist ... eigentlich schwer zu sagen ... GABRIELE: Für eine Dame natürlich?! ANATOL: Na, ja – dass Sie eine Menschenkennerin sind, hab’ ich Ihnen heut schon einmal gesagt! GABRIELE: Aber was ... für eine Dame? – Eine wirkliche Dame?! ANATOL: ... Da müssen wir uns erst über den Begriff einigen! Wenn Sie meinen, eine Dame der großen Welt – da stimmt es nicht vollkommen ... GABRIELE: Also ... der kleinen Welt? ... ANATOL: Gut – sagen wir der kleinen Welt. – GABRIELE: Das hätt’ ich mir eigentlich denken können ...! Schnitzlers Themen 1 Determinismus: Auffassung von der Vorbestimmtheit allen Geschehens 2 Skepsis: kritischer Zweifel, Bedenken, Misstrauen 3 Polarität: Gegensätzlichkeit bei wesenhafter Zusammengehörigkeit 4 Eros: in der griechischen Mythologie Gott der Liebe; sehnsuchtsvolles sinnliches Verlangen 5 Narziss: auf sich selbst bezogener Mensch, der sich selbst bewundert und liebt 6 Banalität: Oberflächlichkeit Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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