Killinger Literaturkunde, Schulbuch

241 Auch der deutsche Baron Neuhoff übt Kritik an der Gesellschaft, in welcher der ererbte Adel nur Dummheit und Eitelkeit deutlich hervortreten lässt: Geist und diese Menschen! Das Leben – und diese Menschen! Alle diese Menschen, die Ihnen hier begegnen, existieren ja in Wirklichkeit gar nicht mehr. Das sind ja alles nur mehr Schatten. Niemand, der sich in diesen Salons bewegt, gehört zu der wirklichen Welt, in der die geistigen Krisen des Jahrhunderts sich entscheiden. Sehen Sie doch um sich: eine Er- scheinung wie die Figur dort im nächsten Zimmer, vom Scheitel bis zur Sohle sich balancie- rend in der Selbstsicherheit der unbegrenzten Trivialität. Arthur Schnitzler Als Sohn eines bekannten Wiener Arztes übt Arthur Schnitzler (1862 – 1931) selbst einige Jahre diesen Beruf aus und zieht sich dann ins Privatleben zurück, um sich ganz der Dichtung zu wid- men. Schnitzler ist als Dramatiker und als Erzähler bedeutend. Kennzeichnend für sein Schaffen ist das Milieu, in dem seine Werke angesiedelt sind. Er ist stärker als die meisten seiner Zeit- genossen an die Atmosphäre seiner Heimatstadt gebunden. Sei- ne Stücke spielen fast ohne Ausnahme im Wien der Jahre 1890 bis 1914. Die Figuren entstammen der höheren Gesellschaft. Reiche Privatiers, junge Offiziere und Studenten finden sich in Liebesbeziehungen zu feinen Damen verstrickt, die ein Abenteu- er suchen, oder zu Künstlerinnen, Halbweltdamen und Mädchen aus ärmeren Schichten, die oft noch naiv und tief empfinden können. In Schnitzlers Bühnenwerken wie in seinen Erzählungen wird das als wesentlich Erkannte nicht lautstark hinausposaunt, sondern im Stil seiner Figuren bloß angedeutet. Schnitzler traut seinem Publikum bzw. seiner Leserschaft genug Reife zu, im Strom der inneren und äußeren Vorgänge das Eigentliche zu erfassen. Wie bei Hofmannsthal ist bei Schnitzler die Welt eine Bühne, auf der die Figuren eine Rolle spielen. Neu an der Dichtung Schnitzlers ist die psychologische Durchdringung der Charaktere. Schon bevor Freud seine Erkenntnisse über das Unbewusste veröffentlicht, beschäftigt sich Schnitzler als Arzt mit der Psyche des Menschen und mit der Hypnose. Was Freud wissenschaftlich untersucht und untermauert, den Zugang zum Unterbewusstsein und zur Welt der Triebe, findet der Dichter intuitiv. Freud spürt diese geistige Verwandtschaft und bringt sie in einem Brief an Schnitzler vom 14. Mai 1922 zum Ausdruck: 1 5 Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von Doppelgängerscheu. Nicht etwa, dass ich sonst so leicht geneigt wäre, mich mit einem anderen zu identižzieren oder dass ich mich über die Differenz der Begabung hinwegsetzen wollte, die mich von Ihnen trennt, sondern ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu Milieu in Schnitzlers Werken Bedeutung der Psychologie Arthur Schnitzler als Einjährig-Freiwilliger, Fotografie um 1880 ci4b72 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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