Killinger Literaturkunde, Schulbuch

240 Die Sprachkrise ist nicht nur für Hofmannsthal das Ende einer Entwicklung der ästhetischen Sprach- form und der Wortmagie. Die Skepsis der Sprache gegenüber tritt bei vielen Dichtern und Philoso- phen des 20. Jahrhunderts auf und führt in der Gegenwartsliteratur zu radikalen Veränderungen, vor allem in der Lyrik. Schon in einem Aufsatz aus dem Jahr 1895 spricht Hofmannsthal von dem „tiefen Ekel“ davor, dass sich „die Worte vor die Dinge gestellt haben“. Es heißt weiter: Die unendlich komplexen Lügen der Zeit, die dumpfen Lügen der Tradition, die Lügen der Ämter, die Lügen der Einzelnen, die Lügen der Wissenschaft, alles das sitzt wie Myriaden 1 tödlicher Fliegen auf unserem armen Leben. Es schwindet der Glaube an die Möglichkeit der Kommunikation, an die Mitteilbarkeit von Einsichten mit dem Medium der Sprache. Die Sprachkrise beendete Hofmannsthals lyrisches Schaffen. Er wandte sich ganz denjenigen literari- schen Formen zu, mit denen er das Publikum stärker zu beeindrucken glaubte: dem Drama und der Erzählung. In diese Phase fällt die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Max Reinhardt (1873 – 1943) und mit dem Komponisten Richard Strauss (1864 – 1949), der viele Bühnenwerke des Dichters vertonte ( Der Rosenkavalier , Arabella , Elektra , Die Frau ohne Schatten ). Mit Leopold von Andrian (1875 – 1951) und Max Reinhardt gründete Hofmannsthal 1920 die Salzburger Festspiele. Jeder- mann und Das Salzburger Große Welttheater , Erneuerungen des Mysterienspiels, wurden für die Festspiele inszeniert. Nach dem Ersten Weltkrieg bemühte sich Hofmannsthal, das Kulturerbe der zerbrochenen österrei- chisch-ungarischen Monarchie in die neue Zeit hinüberzuretten. Es entstanden die Komödien Der Schwierige (1921) und Der Unbestechliche (1923). In der Komödie, meinte der Dichter, sei „höchste versammelte Kraft“; das Schwerste und das Unheimlichste müssten in einem Gleichgewicht gehal- ten werden, das immer den Eindruck der Leichtigkeit zu erwecken habe. Der „Schwierige“, Graf Hans Karl Bühl, ist ein idealer Vertreter der Wiener Noblesse. Seine aristo- kratische Art, seine Sprache und seine Behutsamkeit im Umgang mit Menschen offenbaren seine Persönlichkeit. Umgeben ist er von Personen, die, abgestuft, nur noch ein Zerrbild dieses Ideals eines vornehmen Menschen sind. Das ganze Lustspiel lebt von der Konversation. Hofmannsthals Furcht, dass die Sprache nicht mehr als Mittel tauge, sich selbst zu erklären und andere zu verstehen, klingt in diesem Stück an. Das „Chandosmotiv“ der Sprachkrise erscheint hier aber in abgeschwächter, abgeklärter Form. Der Dialog ironisiert die ichbezogene Eitelkeit und die leeren Worthülsen. Die alte Kunst der Konversation beschreibt Graf Altenwyl: 1 5 In meinen Augen ist Konversation das, was jetzt kein Mensch mehr kennt: nicht selbst perorieren 2 , wie ein Wasserfall, sondern dem andern das Stichwort bringen. Zu meiner Zeit hat man gesagt: wer zu mir kommt, mit dem muss ich die Konversation so führen, dass er, wenn er die Türschnallen in der Hand hat, sich gescheit vorkommt, dann wird er auf der Stiegen mich gescheit žnden. – Heutzutag hat aber keiner, Pardon für die Grobheit, den Verstand zum Konversationmachen und keiner den Verstand, seinen Mund zu halten – Hofmannsthals Dramen 1 Myriaden: sehr große Anzahl, ungezählte, unzählig große Menge 2 perorieren: sprechen Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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