Killinger Literaturkunde, Schulbuch

239 • Zeigen Sie auf, an welcher Stelle die Wendung vom „äußeren Leben“ zum „inneren Leben“ erfolgt. • Beurteilen Sie, wie sich der Sinn der ersten sechs Strophen durch die letzten drei Zeilen verän- dert. Form • Bestimmen Sie sowohl das Versmaß als auch das Reimschema. • Erklären Sie die sprachlichen Bilder (Metaphern) und ihren Symbolgehalt. • Heben Sie hervor, wo die Stilmittel der Anapher, der Alliteration und des Vergleichs einge- setzt sind. Was sich schon in den frühen Werken Hofmannsthals andeutet, nämlich trotz aller Sensibilität nur Bilder statt der Wirklichkeit zu sehen und den Sinn des Lebens weder deuten noch mitteilen zu kön- nen, führt um die Jahrhundertwende zu einer dichterischen Krise. In einem Aufsatz mit dem Titel Ein Brief (1902), oft auch Chandosbrief genannt, beschreibt Hofmannsthal diese Krise: 1 5 10 15 20 Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu be- sprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläužg zu bedienen p egen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte „Geist“, „Seele“ oder „Körper“ nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmög- lich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwel- cher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerželen mir im Munde wie modrige Pilze. [...] Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer un- heimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld 1 mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zeržel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muss: Wirbel sind sie, in die hinabzuse- hen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt. 2. Untersuchen Sie, inwiefern dieser Brief die Sprachkrise Hofmannsthals ausdrückt: • Erläutern Sie die Probleme, die sich für den Verfasser des Briefs in Bezug auf die Darstellung der Wirklichkeit ergeben. • Analysieren Sie die Vergleiche, die der Autor einsetzt und welche Wirkung er damit erzielt. • Beschreiben Sie, welche metaphorischen Ausdrücke Hofmannsthal verwendet und stellen Sie Vermutungen darüber an, was er damit sagen will. • Nehmen Sie Stellung zu Hofmannsthals Aussagen. Sprachskepsis 1 Blachfeld: flaches Feld vm88my GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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