Killinger Literaturkunde, Schulbuch

236 Zeit und versucht in seinen philosophischen Schriften einen Ausweg zu finden. Sein Kampf gegen das „Bildungsphilistertum“ und für die höchste Kunst als Sinn des Lebens kommt dem Empfinden des Wiener Kreises genauso entgegen wie später den Expressionisten (u. a. Georg Heym, Franz Kaf- ka). In den frühen Werken meint Nietzsche, dass die Welt auf Dauer nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen sei. Später betont er den außergewöhnlichen Menschen, die große Einzelpersön- lichkeit. Die Entwicklung des „Übermenschen“ stütze sich nicht auf die Masse der Unbedeutenden, sondern hebe die Menschen heraus, die allein die Welt und sich selbst zu einem Kunstwerk zu machen vermögen. Großen Einfluss auf die Künstler und Intellektuellen hat der Begründer der Psychoanalyse, der Wiener Arzt Sigmund Freud (1856 – 1939). Seine Bedeutung liegt vor allem darin, dass er das Unbewusste oder Unterbewusstsein erforscht hat. Freud sucht Zugänge zum Unterbewusstsein und findet sie unter anderem in der Traumdeutung und der freien Assoziation: Scheinbar unzusammenhängende Äußerungen des Patienten ermöglichen dem Psychoanalytiker, ins Unbewusste verdrängte Wünsche und Triebregungen zu erkennen. Die Verdrängung von Vorstellungen und Regungen, welche die Gesellschaft tabuisiert hat, kann verschiedene Formen von Neurosen verursachen. Die Heilung der Patientinnen und Patienten kann dadurch erreicht werden, dass die meist in die Kindheit zurückrei- chenden verdrängten Erlebnisse mit Hilfe des Analytikers ins Bewusstsein gehoben und verarbeitet werden. Freuds Patienten sind aus derjenigen gehobenen Gesellschaftsschicht, aus der die literari- schen Figuren Schnitzlers und Hofmannsthals stammen. Auch der Begriff „Ambivalenz“, den Sigmund Freud verwendet hat, bringt einen wichtigen Ge- sichtspunkt zum Verständnis mancher Werke. Er drückt aus, dass gegensätzliche Empfindungen nebeneinander bestehen können, ohne dass ein Ausgleich gefunden wird (z. B. Hassliebe). Die Vielschichtigkeit menschlicher Handlungen steht mit dieser ambivalenten Grundhaltung in engem Zusammenhang. Freud verkehrte wie viele andere Wissenschaftler und Künstler in den Wiener Cafés, von denen einige, wie das Café Griensteidl und das Café Central, literarische Berühmtheit erlangten. Das litera- rische Café war Spiegelbild einer geistigen Haltung, die charakteristisch für Wien und die Monarchie war. Man schloss sich hier nicht zu Vereinen und Zirkeln zusammen, wie dies in Deutschland üblich war (z. B. im Kreis um Stefan George oder um die Freie Bühne Berlin), denn man verabscheute fes- te Regeln und Programme. In den Cafés diskutierte man zwanglos literarische, wissenschaftliche, künstlerische und politische Fragen. Man las sich gegenseitig neue Werke vor. Die Bindungen blie- ben jedoch stets locker. Es wurden auch Dichter beeinflusst, die den Kreisen nur kurz und beiläufig angehörten. Neben Schauspielern (darunter Josef Kainz und Alexander Girardi), Journalisten (wie Karl Kraus und Alfred Polgar), Wissenschaftlern und bildenden Künstlern (etwa dem Architekten Adolf Loos) verkehrten vor allem Literaten in den Cafés. Eine der führenden Persönlichkeiten war Hermann Bahr (1863 – 1934), der als Theoretiker und Anreger mehr Bedeutung erlangte denn als Verfasser zahlreicher Dramen und Romane. Er machte die Wiener mit neuen Strömungen bekannt, die er auf zahlreichen Reisen in den Zentren Europas kennen gelernt hatte. Die bedeutendsten Dich- ter der Wiener Moderne waren Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler. Hugo von Hofmannsthal Der Dichter Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929) stammte aus einer Adelsfamilie, die zwar nicht besonders begütert, aber kulturell sehr interessiert war. Bereits in seiner Jugend nahm er mit großer Sensibilität das reiche Wiener Kultur- und Geistesleben in sich auf. Schon als Gymnasiasten gelangen ihm formvollendete Gedichte. Früh empfand er die Last des Kulturerbes und erahnte die inneren Zusammenhänge: Freuds Psychoanalyse Literarische Zirkel Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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