Killinger Literaturkunde, Schulbuch

235 die charakteristischen Kennzeichen dieser Epoche der österreichischen Dichtung ganz zu umfassen. Wien ist bis zum Ende des Ersten Weltkriegs als Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Mon- archie eine der wichtigsten Metropolen Europas. 1851 zählt es samt den Vorstädten 431.000 Ein- wohner, im Jahr 1900 sind es bereits 1,702.000. An diesen Zahlen lässt sich die rasche Entwicklung der Hauptstadt erkennen. Die industrielle Revolution hat auch in der österreichisch-ungarischen Monarchie ein völlig verändertes Wirtschafts- und Sozialgefüge geschaffen. Diese Entwicklung wird hier aber von den besonderen Problemen überlagert, die sich aus dem Zusammenleben vieler verschiedener Völker ergeben. Nationale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Spannungen führen zu Krisen, deren Überbrückung mit Notlösungen und Kompromissen immer schwieriger wird. Der Zusammenhalt wird vielfach nur durch die Symbolfigur Kaiser Franz Josephs I. und durch den tradi- tionsreichen Verwaltungsapparat gewahrt. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vollzieht sich ein entscheidender Wandel in der Gesellschaft. Es werden Parteien gegründet, die in ihrem Programm die Interessen der Industrie- arbeiter/innen verankern (1888 Gründung der Sozialdemokratischen Partei durch Victor Adler). Interessensvereinigungen wie Gewerkschaften organisieren ihre ersten großen Zusammenkünfte. Die erste Welle der Sozialgesetzgebung bringt innerhalb weniger Jahrzehnte eine Arbeitszeitrege- lung, eine Unfall- und Krankenversicherung, ein Arbeitszeitgesetz für Jugendliche und grundlegende Gesetze zur Altersversorgung. Wien ist das kulturelle Zentrum der Monarchie, und dies nicht nur für die deutschsprachigen Ös- terreicher. In Wien erscheinen Zeitungen und literarische Zeitschriften in fast allen Sprachen des Habsburgerreiches. Hier herrscht ein Klima wie in keiner anderen Stadt der Donaumonarchie. Es ist bestimmt von den jahrhundertealten Traditionen des ständischen Denkens und der feudalen Ordnung. Für die gehobene Wiener Gesellschaft sind der extravagante Lebensstil der Kaiserin Eli- sabeth und der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf (1889) wichtigste Themen. Und gerade diese Gesellschaftsschicht wird in der Literatur der Wiener Moderne dargestellt. Träger dieser Spätkultur sind das Großbürgertum und die Intellektuellen. Die gehobene Gesellschaft und die lange kulturelle Tradition, vorwiegend im Bereich der Musik und des Theaters, bilden den Nährboden, auf dem sich eine eigenständige Dichtung entwickelt. Trotz aller historischen Bindungen und trotz aller Loyalität dem Kaiserhaus und dem Staat gegen- über empfindet die kulturelle Oberschicht, dass sich das Gebilde der österreichisch-ungarischen Monarchie und die herrschende feudale Ordnung in einer Zeit der wachsenden nationalen und sozialen Spannungen überlebt haben. In dieser Endphase der Monarchie ist es nicht mehr möglich, Neuerungen durchzusetzen, denn jede Erschütterung könnte das komplizierte Staatsgebilde zu- sammenbrechen lassen. Die vielschichtigen Verflechtungen und die zahlreichen Bruchlinien machen die Dichter sensibel für die inneren Zusammenhänge, für historische, geistige und vor allem für ästhetische Werte. Die Menschen sind sich bewusst, in einer Spätzeit zu leben, die voll Wehmut, Melancholie, verfeinerter Kultur und äußerem Glanz ist, aber keine Sicherheit mehr bietet. Hugo von Hofmannsthal schreibt: Uralter historischer Boden ist uns zum Erbe gegeben, zweier römischer Reiche Nachfolger sind wir auf diesem, das ist uns auferlegt, wir müssen es tragen, ob wir wollen oder nicht. Grundlegende Motive der Dichtung dieser Zeit sind das komplizierte Innenleben, die Kommunikati- onslosigkeit, der Verfall und das Sterben. Oft wird in ästhetischen Formen der einzige Halt gesehen, der in dieser Zeit der Dekadenz noch gegeben ist. Die Dichter und die Intellektuellen sind von den Lehren der Philosophen Sören Kierkegaard (1813 – 1855) und Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) be- einflusst. Kierkegaard gilt als Vorläufer der Existenzphilosophie. Nietzsche spürt die Gefährdung der Die Monarchie und ihre Probleme Wien um 1900 Großbürgertum als Kulturträger Einfluss der Philosophie ih6a4y GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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