Killinger Literaturkunde, Schulbuch

231 0 85 an die Knagge 1 neben der Korridortür gehängt. Selicke steht nun in Hemdärmeln da. Streicht sich über die Arme und schlägt sich dann, vor sich hinkichernd, mit der Faust auf seine breite, gewölbte Brust.) Ae! ... Ja? Siehste? ... Dein Vater is noch’n Kerl! ... (Lacht.) Was meinste, mein’ Tochter! ... Z-zerdrück’n könnt’ ich dich mit meinen Händen! ... Z-zerdrücken! ... Das wär’ am Ende auch – das Beste! ... (Mit dumpfer Stimme, sieht vor sich hin) : Ich häng euch – alle auf! Alle! ... Und dann – schieß ich mich – tot! ... (Toni wankt ein wenig zurück nach der Flurtüre zu. – Selicke geht auf die Kammertür zu. Man hört Walter in der Kammer weinen.) 5. Analysieren Sie diese Textabschnitte nach inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten: • Beschreiben Sie die Verhaltensweisen, die den Alkoholiker Selicke von einem gesunden Men- schen unterscheiden. • Erläutern Sie, woran die Menschen in diesem Dramenausschnitt leiden. • Illustrieren Sie, mit welchen sprachlichen Mitteln die beiden Autoren versuchen, die Wirklich- keit wiederzugeben. • Kommentieren Sie die Regieanweisungen. • Stellen Sie dar, was alles sich im Vergleich zum klassischen Drama geändert hat. Die Figuren naturalistischer Dramen haben nicht viel Spielraum zum Handeln: Sie sind durch ihr Erbgut und das Milieu festgelegt, sie sind passive Heldinnen und Helden. Die Analyse ihres Cha- rakters wird zur Hauptaufgabe des Dramas, das lediglich Geschehensabläufe darstellt, aber keine persönlichen dramatischen Konflikte. Die Entdeckung der Vererbungsgesetze und die Milieutheorie Taines haben dem idealistischen Traum vom freien Willen der sittlichen Persönlichkeit ein Ende bereitet. Der griechische Schicksalsgedanke war offenbar in Form von wissenschaftlichen Erkenntnissen ins Drama zurückgekehrt. Es ist meist eine trostlose, bedrückende Wirklichkeit, die uns die Naturalisten vor Augen führen. Mit Vorliebe wird das Hässliche, Niederziehende dargestellt; Kranke, Geistesgestörte, Alkoholiker, Dirnen sind beliebte Handlungsträger. Das Milieu ist umso interessanter, je mehr es am Rande und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft liegt. Das hat den Naturalisten den Vorwurf eingetragen, Realität gerade nicht in ihrer ganzen Fülle, sondern mit offenkundiger Bevorzugung ihrer tristen Sei- ten wiederzugeben. Schon Theodor Fontane wandte gegen den Naturalismus ein: „Es ist die Muse in Sack und Asche, Apollo hat Zahnweh.“ Man fragte sich, wie objektiv die Wirklichkeit dargestellt werden könne und ob es sinnvoll sei, in einem literarischen Werk nichts als die Wirklichkeit in Aus- schnitten abzubilden. Zum raschen Zerfall des naturalistischen Programms trug auch die sich bald aufdrängende Erkennt- nis bei, dass die Dichtung aufhört, ein eigenständiges Medium zu sein, wenn sie sich zur Dienerin der Wissenschaft macht. Die noch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzende Umbildung des Naturalismus zum Impressionismus und aufkommende Gegenströmungen (Neuromantik, Symbolismus) konnten die – einmal gebahnte – naturalistische Seh- und Darstellungsweise aber nicht völlig verdrängen. Autoren wie Thomas Mann und Bertolt Brecht bezeugen in manchen Werken den fortwirkenden Einfluss des Naturalismus. Determination durch Erbgut und Milieu „Muse in Sack und Asche“ 1 Knagge: Kantholz als Verstärkung u78993 DER NATURALISMUS | 1882 – 1910 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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