Killinger Literaturkunde, Schulbuch

229 FRAU SELICKE: Ach, der alte, böse Husten! ... Na so? (Hat sie ein wenig hochgerückt.) LINCHEN: Erzähl mir ... doch ... n’bisschen was! FRAU SELICKE: Ach, liebes Kind! ... Ich weiß nichts! (Seufzt.) Die Mutter wartet mit Toni, der 22-jährigen Tochter, die Nacht über auf ihren Mann, der Alkoholiker ist. Die beiden Söhne, Albrecht und Walter, sind schon schlafen gegangen. 1 5 10 15 20 25 30 35 FRAU SELICKE: Horch mal! ... Poltert’s nicht auf der Treppe?! TONI: Ach, wohl nur die Katze! FRAU SELICKE: Ach Gott, nein! (Erhebt sich und geht schwerfällig auf das Fenster zu.) Wunderhübsch draußen! ... Aber der Himmel bezieht sich wieder, wir bekommen andres Wetter! ... Ich spür’s an meinem Fuß! ... Nein, noch nichts zu sehn! Ach ja! (Geht wieder zurück und setzt sich.) Ich bin todmüde! Wie zerschlagen! TONI: Da kommt wer! FRAU SELICKE: Ach Gott! (Fährt in die Höhe.) TONI: Er ist es! ... Endlich! FRAU SELICKE: Ach! – Ach! – Mein Herz! – Mein Herz! Die Angst drückt’s mir ab! WALTER (aus der Kammer) : Mutterchen! Kommt er? FRAU SELICKE: Still! Schlaf! TONI: Er ist auf der Treppe! – Hinten! (Sie ist auf Frau Selicke zugetreten.) FRAU SELICKE: Ich renne fort! ... Ach! Wohin? TONI: Sei ruhig, Mutterchen! FRAU SELICKE: Ach, meine Angst! Meine Angst! ... Pass auf! ... Es gibt’n Unglück! Das arme Kind! ... TONI (stützt sie) : Beruhige dich doch, Mutterchen! Er ist ja gar nicht so schlimm, wie er immer tut! FRAU SELICKE: Ach, trotzdem! ... Meine Nerven sind ja so schwach! Alles nimmt mich so mit! TONI: Der Vater ... Nein! ’s is wahr ... hach! FRAU SELICKE: Mich schwindelt! ... Mir ... is ... zum Umkomm’n! (Stützt sich gegen Toni.) Horch! ... Er kommt heut wieder hinten rum! Ach, mein Herz! Mein Herz! ... Fühl mal! WALTER (aus der Kammer in höchster Angst) : Mutterchen! Mutterchen! Es pumpert gegen die Küchentür! FRAU SELICKE: Ach Gott, ach Gott! is der schwer! ... Ruhig, Walter! Sei still, mein Junge! ... Tu, als ob du schläfst! ... Toni, mach auf! TONI: Ja! Geh solang vorn raus, Mutterchen! Auf alle Fälle! (Toni ab in die Küche mit der Lampe. Frau Selicke steht einen Augenblick nach der Küche hin lauschend. Zittert. Presst beide Hände aufs Herz. Geht dann auf die Flurtür zu. – Es poltert in der Küche. Schwere Schritte. Eine tiefe Bassstimme. Lustiges Lachen. – Frau Selicke verschwindet schnell im Flur. Die Küchentür wird aufgestoßen. Noch hinter der Szene die Stimme Selickes: Na? ... Tönchen ... Tööönchen ...) . SELICKE (tritt in die Stube, welche in diesem Augenblicke nur von dem Licht der Lampe, das aus der Küche in die Stube fällt, hell ist. Selicke: ein großer, breitschultriger Mann mit schwarzgrauem Vollbart. Schwarzer Sonntagsanzug unter dem offenstehenden Überrock. Er schleift einen kleinen Christbaum hinter sich; aus den Taschen sieht Papier von Paketen und Tüten vor. Unter den Arm hat er eine große weiße Tüte gequetscht. Er ist angetrunken. mb63g6 DER NATURALISMUS | 1882 – 1910 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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