Killinger Literaturkunde, Schulbuch

228 DAs nATuRAL I sT I scHE DRAMA Die Naturalisten wollten ein neues Drama schaffen, das darstellt, was die Nachahmer der Klassiker im 19. Jahrhundert darzustellen verabscheuten: die Wirklichkeit, den Alltag des Proletariats, des Kleinbürgertums. Die Naturalisten haben keine neue Dramenform geschaffen; sie versuchen die drei Einheiten unge- fähr einzuhalten und die Szenen logisch-kausal auseinander zu entwickeln, weil dies der Wirklichkeit entspricht. Der Monolog und das Beiseitesprechen werden als unnatürliche Formen des Sprechens abgelehnt. Wichtig dagegen wird das stumme Spiel, das der Autor in umfangreichen Regieanwei- sungen vorschreibt. Neu am naturalistischen Drama sind vor allem Sprache und Inhalt. Es geht nicht um Verstöße gegen das Sittengesetz, sondern um soziale Auseinandersetzungen, milieubedingte Familienkonflikte, Ge- gensätze zwischen „Vorder- und Hinterhaus“, wobei die Vertreter des Proletariats als Hauptfiguren auf der Bühne stehen. Die Handlung ist jedoch nicht so wesentlich, sie ist nur das Mittel, Charaktere zu zeichnen. Weihnachten bei den Selickes, einer heruntergekommenen kleinbürgerlichen Berliner Familie mit vier Kindern zwischen 22 und 8 Jahren. Linchen, die Jüngste, ist todkrank. Sie spricht mit ihrer Mutter, die sie zärtlich „Mamachen“ nennt. 1 5 10 15 20 25 Arno Holz und Johannes Schlaf Die Familie Selicke (1890) LINCHEN: Ma-machen ... Ja? Ich – werde doch ... wieder gesund? FRAU SELICKE: Ja, gewiss, mein Mäuschen! ... Freilich! (Kleine Pause) LINCHEN: Ma-machen? ... FRAU SELICKE: Hm? LINCHEN (lächelnd) : Kranksein ist hübsch! FRAU SELICKE: Ach Gott! ... Meine arme, dumme Kleine! ... Warum denn? (Beugt sich zärtlich zu Linchen hin.) LINCHEN: Weil ... weil du dann ... immer ... so ... gut bist ... FRAU SELICKE: Oh, aber mein Linchen! ... Bin ich denn sonst nicht gut? LINCHEN: Liebes Mamachen? FRAU SELICKE: Was denn, meine Kleine? LINCHEN: Mamachen? FRAU SELICKE (rückt ihr etwas näher) : Na? LINCHEN: Nicht wahr ... Ma-machen? ... Du zankst nicht mehr ... mit mir ... wenn ich ... erst wieder ... gesund ... bin ... FRAU SELICKE: Ach, meine ... (küßt sie.) LINCHEN: Hast du ... mich ... lieb, Ma-machen? FRAU SELICKE: Ach, meine Kleine! LINCHEN: Bringt Papa ... ein’ Baum mit ... und Lichter? FRAU SELICKE: Ja, Liebchen! Und morgen kommt der Weihnachtsmann! LINCHEN: Ei! ... Rück mich doch’n bisschen in die Höh’, Ma-machen! FRAU SELICKE: Willst du denn nich wieder einschlafen, meine Kleine? LINCHEN (aufgeregt, hastig) : Ach, ich ... bin ... gar nich ... müde ... (Hustet.) Ich ... bin ... ganz ... wohl ... Ma-ma-chen! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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