Killinger Literaturkunde, Schulbuch

225 2. Zeigen Sie auf, mit welchen Kunstgriffen Zola eine derart minutiöse Schilderung erreicht. Das Gebot der objektiven Darstellung ist hier genau befolgt, die schwierige Beschreibung einer technischen Anlage ist musterhaft gelungen. Dennoch kamen Einwände gegen eine solche detail- lierte Beschreibung von Gegenständen, die nicht in unmittelbarer, episch bedeutsamer Beziehung zu Figuren der Erzählung stehen: „Wem gibt eine derartige Beschreibung etwas?“, fragte der mar- xistische Literaturwissenschaftler Georg Lukács. „Wer das (Beschriebene) nicht ohnehin kennt, be- kommt daraus keine wirkliche Vorstellung. Für den technischen Kenner hingegen bringt eine solche Beschreibung nichts Neues. Sie ist dichterisch vollkommen überflüssig.“ In naturalistischer Sicht ist auch der Mensch „ein Stück Natur“, bestimmt durch Erbanlage, Umwelt und geschichtliche Situation. Vorzugsweise wenden sich die Naturalisten dem proletarischen Milieu mit seinen nicht stilisierten Umgangsformen und seiner derben Ausdrucksweise zu. In dem Roman Die Bruthenne von Guy de Maupassant (1850 – 1893) beschimpft in einer Schenke die Wirtin, de- ren größte Kunst das Mästen von Hühnern ist, ihren Mann: 1 5 10 „So was sollte man doch lieber in einen Schweinestall stecken. Bei solchem Fettklumpen muss einem ja übel werden.“ Und sie schrie ihm ins Gesicht: „Wirst schon noch sehen, was kommen wird, wirst schon noch sehen! Wie ein Kornsack wird er noch einmal platzen, dieser Dickwanst!“ Anton lachte aus vollem Halse und klopfte sich auf den Bauch, indem er rief: „Haha, du Hühnermutter, du Brett; versuche doch deine Hühner auch so fett zu machen. Versuche es doch einmal.“ Und indem er den Hemdärmel von dem gewaltigen Arm zurückstrich, sagte er: „Das ist doch noch einmal ein Flügelchen, was, Mutter?“ Und die Gäste schlugen mit der Faust auf den Tisch, trampelten mit den Füßen auf dem Boden, wanden sich vor Vergnügen und spuckten in rasender Freude auf die Erde. Und die Alte wiederholte wütend: „Wirst schon noch erleben, was kommen wird ... Wirst platzen wie ein Kornsack ...“ Und unter dem Gelächter der Gäste verschwand sie voller Zorn. 3. Beurteilen Sie, welche Wirkung der Autor mit dieser Szene erreicht. Die Darstellung des Animalischen im Menschen, des Derben, oft auch des Obszönen und der Trieb- besessenheit, sollte nicht nur Themen, die bislang von der gehobenen Literatur ausgeklammert worden waren, in die Dichtung einführen, sondern auch den „satten Bürger“ schocken und provo- zieren, ihm vor Augen führen, wie verderbt und voller Ungerechtigkeit die von ihm beherrschte Welt sei. Gesellschaftskritik, etwa durch die Gegenüberstellung von Armut und Reichtum, Abhängigkeit (der Lohnarbeiter/innen) und Willkür (der Besitzenden), verband sich mit dem leidenschaftlichen Wunsch, die Welt zu erneuern. Vor allem in der Frühzeit des Naturalismus waren seine Anhänger von einer Art missionarischem Drang erfüllt, den Menschen aus seiner unwürdigen, unnatürlichen Lage zu befreien. Was ihn zum Gefangenen machte, waren die Fesseln der Konvention: Ungleich- heit der Rechte und des Besitzes, Moralgesetze, Überhöhung geistiger und sittlicher „Werte“ auf Kosten des Menschlichen. Wenn diese Fesseln endgültig gesprengt würden, dann wäre, so hoffte man, das große Erlösungswerk gelungen. Im deutschsprachigen Raum wurde die Forderung nach einer unpersönlichen und leidenschaftslosen Schreibweise, die bei Flaubert schon erfüllt ist, erst vom Naturalismus verwirklicht: Der Erzähler darf in der Erzählung nirgendwo spürbar sein, er darf sich nicht einmischen. Das heißt, er darf nichts erläutern oder erklären, darf weder Sympathie für noch Abneigung gegen seine Figuren und ihre Handlungen zeigen, und er darf nicht urteilen. Unbeteiligt wie eine fotografische Linse hat er die Proletarisches Milieu Befreiung des Menschen von bürgerlichen Konventionen u34nm8 DER NATURALISMUS | 1882 – 1910 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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