Killinger Literaturkunde, Schulbuch

222 uMwäLZEnDE nEuE THEoRIEn Die Zeitspanne umfasst in Deutschland die letzten Jahre des Kanzlers Bismarck und die entscheiden- den Jahre Kaiser Wilhelms II., in Europa die Blütezeit des Imperialismus. Der Konkurrenzkampf um Rohstoffquellen und Absatzmärkte stand im Zeichen des schrankenlosen Liberalismus (Manches- terliberalismus), der die Verarmung des vierten Standes (der Arbeiter/innen) beschleunigte und die sozialen Gegensätze verschärfte. Die „soziale Frage“ wurde zum Hauptproblem der Innenpolitik. Der Positivismus des französischen Philosophen Auguste Comte (1798 – 1857) ließ nur die Natur- wissenschaften als Wissenschaften gelten. Sie allein beschäftigten sich mit dem „Positiven“, d. h. mit dem Erfahrbaren und Beweisbaren. Im Anschluss an Darwins Abstammungslehre erklärte der englische Philosoph Herbert Spencer (1820 – 1903), moralisch gut sei, was der Selbsterhaltung des Einzelnen und der Gruppe diene. John Stuart Mill (1806 – 1873) meinte, den Wert einer Handlung könne man nur an ihren Folgen messen. Ziel allen Strebens müsse es sein, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen zu verwirklichen (Utilitarismus). Starken Einfluss auf die Kunsttheorie des Naturalismus hatte der Franzose Hippolyte Taine (1828 – 1893), der den Menschen von allen transzendenten (übernatürlichen) Bindungen löste und ihn vom Milieu abhängig sah (Milieutheorie). Dem Menschen sind nur die Erde und das kurze Leben auf ihr gegeben. Er ist eingespannt in einen naturgesetzlichen Ablauf der Dinge. Die Willensfreiheit ist eine Illusion. Nach der materialistischen Geschichtsauffassung von Karl Marx und Friedrich Engels zeigt die Ge- schichte den ständigen Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, Sklavenhaltern und Skla- ven, Bourgeoisie (Besitzbürgertum) und Proletariat. Nicht einzelne Persönlichkeiten machen Ge- schichte, sie agieren nur als Vertreter ihrer Klasse. Letztlich sind es die materiellen Verhältnisse, die den historischen Ablauf bedingen. Der dialektische Materialismus lehrt, dass nicht das Bewusstsein das Sein präge, sondern umgekehrt: Das gesellschaftliche Sein (die äußeren Bedingungen) präge das Bewusstsein. Marx erwartete die Lösung der Spannungen zwischen Kapitalismus und Proletariat von einer Revolution und der Dik- tatur des Proletariats, das erst einmal alle „Enteigner“ enteignen werde. Dann sei der Aufbau einer humanen klassenlosen Gesellschaft möglich. Die von Hegel stammende Dialektik wird auf die Gesellschaftsordnung angewendet: Die These (der Kapitalismus) erzeugt mit logischer Notwendigkeit die Antithese (das Proletariat). Zwischen den bei- den Gegensätzen herrscht eine Spannung, die sich in der Geschichte als Klassenkampf darstellt. Die Spannung drängt naturgesetzlich zur Aufhebung der Gegensätze in der Synthese, der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus. Gegenstand der Wissenschaft ist das Erfahrbare Die Umgebung prägt den Menschen Das Sein prägt das Bewusstsein Klassenlose Gesellschaft DER NATURALISMUS 1892 BIS 1910 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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