Killinger Literaturkunde, Schulbuch

221 5 10 15 20 „Ich weiß nicht. Mach das Fenster auf, ... ich ersticke!“ [...] Und es überkam sie ein so plötzlicher Brechreiz, dass sie kaum noch Zeit hatte, ihr Taschentuch unter dem Kopfkissen hervorzuholen. [...] Charles fühlte ihr den Puls. Er war dünn, beschleunigt, unregelmäßig; manchmal setzte er aus. Er fragte sie aus; sie antwortete nicht; reglos lag sie da, aus Furcht, sich bei der geringsten Bewegung übergeben zu müssen. Dabei fühlte sie eine eisige Kälte von den Füßen zum Herzen aufsteigen. [...] Mit einer weichen, angstvollen Bewegung rollte sie den Kopf hin und her, wobei sie bestän- dig den Mund öffnete, als liege ihr etwas sehr Schweres auf der Zunge. Um acht setzte das Erbrechen wieder ein. Charles nahm wahr, dass sich auf dem Boden des Napfes eine Art weißlichen Niederschlags an den Porzellanwänden festsetzte. [...] Sie “ng an zu wimmern, zunächst ganz schwach. Ein Frostschauer schüttelte ihre Schultern, und sie wurde bleicher als das Laken, in das sich ihre verkrampften Finger einkrallten. Ihr Pulsschlag war jetzt fast unspürbar. [...] Unversehens war sie magerer geworden. Schweißtropfen sickerten ihr über die Schläfen, deren dünne Haut aussah, als sei sie zu den Wangen hin gezogen; ihr bläuliches Gesicht wirkte wie geronnen in den Ausdünstungen metallischer Dämpfe. Ihre Zähne schlugen auf- einander, ihre ganz groß gewordenen Augen blickten ausdruckslos umher. [...] Dann wurde ihr Wimmern stärker. [...] Abermals überkamen sie die Krämpfe, und sie schrie auf: „Ach, ist das grässlich, mein Gott! Es soll aufhören!“ Charles Bovary ist vor Schrecken, Schmerz und Angst unfähig zu handeln; es wird ein anderer Arzt herbeigeholt. 1 5 10 Der Kollege [...] verschrieb ein Brechmittel, um zunächst einmal den Magen völlig zu ent- leeren. Und als er den Erfolg der ersten Dosis sah, verabfolgte er rasch eine zweite, stärkere. Aber da erbrach sie sofort Blut, und ihre Lippen verzerrten sich noch mehr. Ihre Glieder waren zusammengeschrumpft, ihr Körper hatte sich mit braunen Flecken bedeckt, ihr Puls glitt unter den Fingern wie ein gespannter Faden, wie eine dem Springen nahe Leiersaite. [...] Und alsdann begann sie hastig zu keuchen. Ihre braune Zunge trat ganz aus dem Mund heraus; ihre rollenden Augen verblassten wie die Glasglocken zweier erlöschender Lampen; man hätte sie schon für tot halten können, wäre nicht die erschreckende, beschleunigte Bewegung ihrer Rippen gewesen, die ein raues, beständiges Atmen rüttelte, als vollführe die Seele Sprünge, um sich loszulösen. 6. Analysieren Sie den Leseeindruck dieser Stellen: • Stellen Sie dar, welchen Eindruck diese Abschnitte auf die Leserin bzw. den Leser machen. • Vergleichen Sie die Motive, weshalb damals und in der heutigen Zeit Abstoßendes und Ekel- erregendes dargestellt werden. 8qq5wf der realiSmuS | 1850 – 1885 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=