Killinger Literaturkunde, Schulbuch

218 Auch für die Eltern der jungen Frau sind die Spielregeln der Gesellschaft zunächst wichtiger als Einsamkeit und Verzweiflung der einzigen Tochter. Nachdem Innstetten sie über Effis „Schritt vom Wege“ unterrichtet hat, schreibt ihr die Mutter: 1 5 10 15 „... Und nun Deine Zukunft, meine liebe Ef“. Du wirst Dich auf Dich selbst stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel mitsprechen, unserer Unterstützung sicher sein. Du wirst am besten in Berlin leben (in einer großen Stadt vertut sich dergleichen am besten) und wirst da zu den vielen gehören, die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben, und wenn Du das nicht willst, wahrscheinlich aus Deiner Sphäre herabsteigen müssen. Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) – auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein, wir können Dir kei- nen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten, keine Zu ucht in unserem Hause, denn es hieße das, dies Haus von aller Welt abschließen, und das zu tun, sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem, was sich ‚Gesellschaft‘ nennt, uns als etwas unbedingt Unerträgliches erschiene; nein, nicht des- halb, sondern einfach, weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen ...“ Das Motiv der Ehebrecherin ist von den Realisten häufig behandelt worden. In der Regel gehört die Ehebrecherin der „guten Gesellschaft“ an, weil diese auf einen solchen Fehltritt besonders heftig reagierte und dadurch Symptome ihrer inneren Struktur sinnfällig werden ließ. 3. Weisen Sie anhand dieser Textstellen die Bedeutung der gesellschaftlichen Normen nach: • Kommentieren Sie die Argumente Innstettens für ein Duell mit dem ehemaligen Liebhaber seiner Frau. • Erläutern Sie, zu welchen anderen Folgen das sklavische Einhalten dieser Normen führt. • Untersuchen Sie, wie sie begründet werden. • Nehmen Sie Stellung zur Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit von gesellschaftlichen Normen generell. Das lyrische Werk des Schweizer Autors Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898) ist charakteristisch für die Dichtkunst des poetischen Realismus und gilt als frühe Form des Symbolismus (vgl. Seite 246ff.). C. F. Meyer hielt sich 1870 in Rom auf und saß oft im Park der Villa Borghese. Dort entstand die erste Fassung des Gedichts: 2 4 Conrad Ferdinand Meyer Der römische Brunnen (1870) In einem römischen Garten verborgen ist ein Bronne 1 , behütet von dem harten Geleucht der Mittagssonne, 6 8 er steigt in schlankem Strahle in dunkle Laubesnacht und sinkt in eine Schale und übergießt sie sacht. überarbeitung eines textes 1 Bronne: Brunnen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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