Killinger Literaturkunde, Schulbuch

217 werden mögen, als dazu die Witterung und der Wald so still und lieblich waren, verlor Züs endlich den Kompass als ein Wesen, dessen Gedanken am Ende doch so kurz sind als seine Sinne; ihr Herz krabbelte so ängstlich und wehrlos wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt, und Dietrich besiegte es in jeder Weise. 2. Illustrieren Sie, welche Stellen dieses Zitats zu der humorvollen Wirkung führen. Theodor Fontane (1819 – 1898) hat den Moralkodex der gehobenen Gesellschaftsschichten des 19. Jahrhunderts und die daraus folgenden Verhaltensweisen in seinem Roman Effi Briest dargestellt. Darin wird ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit lebendig: Dem Baron von Innstetten, einem ho- hen Ministerialbeamten, sind durch Zufall Briefe in die Hand gekommen, aus denen er sieht, dass seine sehr viel jüngere, schöne und liebenswürdige Frau vor Jahren ein kurzes Liebesverhältnis hatte. Er bittet sofort einen Freund zu sich und ersucht ihn, seine Forderung an den einstigen Liebhaber seiner Frau zu überbringen und beim Duell sein Sekundant 1 zu sein. Der Freund fragt ihn, ob das wirklich sein müsse, und etwas später: 1 5 10 „[...] Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie’s durchaus tun? Fühlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empört, daß einer weg muß, er oder Sie? Steht es so?“ „Ich weiß es nicht.“ „Sie müssen es wissen.“ Innstetten war aufgesprungen, trat ans Fenster und tippte voll nervöser Erregung an die Scheiben. Dann wandte er sich rasch wieder, ging auf Wüllersdorf zu und sagte: „Nein, so steht es nicht.“ „Wie steht es denn?“ „Es steht so, daß ich unendlich unglücklich bin; ich bin gekränkt, schändlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar von Durst nach Rache. [...] Wenn er nach persönlichen Beweggründen handeln dürfte, würde er seiner Frau verzeihen, weil er sie liebt. Er wendet aber ein: 1 5 Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm. Ginge es, in Einsamkeit zu leben, so könnt ich es gehen lassen; ich trüge dann die mir aufgepackte Last, das rechte Glück wäre hin, aber es müssen so viele leben ohne dies ‚rechte Glück‘, und ich würde es auch müssen und – auch können. [...] Aber im Zusammenleben mit den Men- schen hat sich ein Etwas gebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf. Dieses „uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas“ nimmt Innstetten die Freiheit der Entscheidung: „Ich habe keine Wahl. Ich muss.“ Mit dem „Fleck auf seiner Ehre“, der ihm schwerer wiegt als sein Unglück, kann er in der Gesellschaft nicht leben. ehrenkodex der gehobenen Gesellschaft 1 Sekundant: Berater und Zeuge eines Duellanten e67uv8 der realiSmuS | 1850 – 1885 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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