Killinger Literaturkunde, Schulbuch

215 dessen Novellen in der Vergangenheit (16., 17. Jahrhundert) spielen und welthistorische Ereignisse darstellen, in deren Mittelpunkt bedeutende Persönlichkeiten stehen. Kennzeichnend für die Erzählung des Realismus ist die Rahmentechnik: Ein Erzähler erinnert sich an eine Begebenheit aus seinem Leben oder an eine alte Chronik, in der die dann folgende Geschichte erzählt ist. Manchmal hat die Erzählerfigur eine eigene Biographie, so z. B. in Theodor Storms Novel- le Der Schimmelreiter : Der Lehrer erzählt in der Wirtsstube die Geschichte des Deichgrafen Hauke Haien, als eben ein furchtbares Unwetter die Deiche bedroht. Die Erzählungen bekommen durch den Rahmen den Anstrich eines Berichtes über reales vergangenes Geschehen. Sie sollen als erlebte Wirklichkeit erscheinen, nicht als phantastische Erfindungen. Sprachlich gesehen herrscht die Prosa als die natürlichste Redeweise vor. Der Stil ist einfach; er ver- meidet Extreme, wie Pathos und Ausbrüche, ist nüchtern, aber gefeilt. Der poetische Realismus ist gekennzeichnet durch einen epischen Grundzug. Mit Behagen werden Milieu- und Zustandsschil- derungen geboten. Die bevorzugte Gattungsform ist die Novelle, die im Realismus den Höhepunkt ihrer Entwicklung in der deutschen Literatur erreicht (vgl. Seite 163ff.). Der Roman tritt im Realismus in verschiedenen Formen auf: als Entwicklungsroman in der Nachfolge Goethes, als historischer Roman und Zeitroman sowie als Gesellschafts- und Familienroman. Auf das Drama wird weitgehend verzichtet. Eine Ausnahme bildet Friedrich Hebbel, der zwar zu dieser Zeit schreibt, allerdings nicht zu den Realisten im engeren Sinn gehört; er steht in der Nach- folge der Klassiker. In der Lyrik werden das Erlebnisgedicht und das Stimmungsgedicht der Romantik fortgesetzt. Hauptvertreter ist Theodor Storm. C. F. Meyer führt das so genannte Dinggedicht ein, das später im Symbolismus einen bedeutenden Platz einnimmt (vgl. Seite 218f. und 247). Eine wichtige Rolle als Ausdrucksform spielt die Lyrik im Realismus aber nicht. „Der große Umschwung, der dem Realismus zum Siege verhalf“, wurde nach den Worten Theodor Fontanes durch die folgende, damals revolutionäre Zielsetzung herbeigeführt: Gegenwart, nicht Vergangenheit, Wirklichkeit, nicht Schein, Prosa, nicht Vers. Die realistischen Erzähler beziehen sich meist ganz konkret auf die Gegenwart, auf die Realität ihrer Zeit. Ihr Programm, die ganze Wirklichkeit zu erfassen, verweist sie vor allem auf die Darstellung des einfachen Lebens der kleinen, unverbildeten Leute. Gottfried Keller (1819 – 1890) rät dem Volksdichter, „die Würde der Menschheit im Volke aufzusuchen und sie demselben in seinem ei- genen Tun und Lassen nachzuweisen.“ Zur Fülle des Wirklichen gehört das Alltägliche, Banale, das Nicht-Erhabene, wie der Ausschnitt aus der Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe aus seinem Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla (1856) zeigt: 1 5 10 Dies (das Angeln) war auch eine Hauptbeschäftigung der Seldwyler. Bei günstigem Wetter, wenn die Fische gern anbissen, sah man sie dutzendweise hinauswandern mit Rute und Eimer, und wenn man an den Ufern des Flusses wandelte, hockte alle Spanne lang einer, der angelte: der eine in einem langen Bürgerrock, die bloßen Füße im Wasser, der andere in einem spitzen blauen Frack auf einer alten Weide stehend, den alten Filz schief auf dem Ohre; weiterhin angelte da einer im zerrissenen, großblumigen Schlafrock, da er keinen anderen mehr besaß, die lange Pfeife in der einen, die Rute in der andern Hand, und wenn man um eine Krümmung des Flusses bog, stand ein alter kahlköp“ger Dickbauch faselnackt auf einem Stein und angelte; dieser hatte, trotz des Aufenthaltes am Wasser, so schwarze Füße, dass man glaubte, er habe die Stiefel anbehalten. Jeder hatte ein Töpfchen oder ein Schächtelchen neben sich, in welchem Regenwürmer wimmelten, nach denen sie zu andern Stunden zu graben p egten. Gegenwart, Wirklichkeit, Prosa 4rq36k der realiSmuS | 1850 – 1885 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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