Killinger Literaturkunde, Schulbuch

214 (Romantik). Gottfried Keller sprach von der „Unverantwortlichkeit der Einbildungskraft“. Der The- oretiker Friedrich Theodor Vischer schrieb: Das Spiel der Phantasie mit sich selbst, das Feuerwerk auf dem Wasser, das die neuere Ro- mantik uns vorgemacht hat: dies war es, was mir vorschwebte als das Übel, gegen das ich den Damm der Objektivität errichten müsse. „Poetisch“ und „Realismus“ scheinen zunächst un- vereinbar; denn „poetisch“ bedeutet eigentlich so viel wie: freie Schöpfung der Phantasie, und Realismus ist Bindung an die Wirklichkeit, Nachahmung der Natur. Das bloße Abschildern von Realität hielten die deut- schen Erzähler für einen „Irrweg und ein Verkennen des eigensten innersten Wesens der Kunst“ (Fontane). Realistische Kunst bezieht zwar ihre stofflichen Ele- mente unmittelbar aus der Wirklichkeit, aber sie ge- staltet daraus eigengesetzliche Gebilde. Sie verwandelt die Wirklichkeit in Poesie (Poetisierung). „[...] es bleibt nun mal ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Bil- de, das das Leben stellt, und dem Bilde, das die Kunst stellt; der Durchgangsprozess, der sich vollzieht, schafft [...] eine rätselhafte Modelung, und an dieser Mode- lung haftet die künstlerische Wirkung, die Wirkung überhaupt“, schreibt Fontane. Und Gottfried Keller unterstreicht die „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“, also ihr Recht und ihre Pflicht, sich keinen anderen Ge- setzen als den ihr innewohnenden zu unterwerfen. Der poetische Realismus will die erfahrbare Welt un- parteiisch schildern. Selbst die Meinung und das Ge- fühl des Dichters sollen außerhalb der Darstellung bleiben. Damals glaubte man noch, dass man genau sagen könne, was wirklich ist, was den Objekten zu- gehört und was vom Subjekt stammt. Die Realisten waren gegen jede die Wirklichkeit verfälschende Tendenz. Deswegen meinten sie, politisch und gesellschaftspolitisch nicht Partei ergreifen zu dürfen, und hassten das Pathos. Sie wollten den Menschen in seinem Alltag, bei seiner bürgerlichen Arbeit, in seiner Familie so darstellen, wie er „wirklich“ ist. Und sie wollten keinen gesellschaftlichen und kulturellen Gegenentwurf zu den herr- schenden Verhältnissen liefern, wie dies vorangegangene Epochen getan hatten. Der Realist wollte ein illusionsloser Beobachter der Wirklichkeit sein, merkte aber nicht, dass er nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit aufnahm – und den in einer bestimmten Optik. Da fast alle Realisten aus dem Bürgertum und Kleinbürgertum kamen, sahen sie vor allem diese ihre Welt, aber kaum die der Arbeiter. Das proletarische Milieu und die damit verbundene soziale Problematik wurden in Deutsch- land erst von den Naturalisten gegen Ende des Jahrhunderts programmatisch thematisiert. Nicht in Industriezentren und Großstädten spielt die Handlung realistischer Erzählungen, sondern in der Kleinstadt oder auf dem Land (Dorfgeschichte). Die Figuren sind häufig Handwerker, Kaufleute, Bauern und sonderbare Käuze. Nicht das öffentliche Geschehen, die große Politik, bildet den Hin- tergrund, sondern die kleine, enge Welt des Privaten. Eine Ausnahme ist Conrad Ferdinand Meyer, Poetische Wiedergabe der Wirklichkeit Schilderung der bürgerlichen Welt erzählende Formen Wilhelm Leibl (1844 – 1900), Die drei Frauen in der Kirche ; 1881, Öl auf Holz, Kunsthalle Hamburg; Das Bild stellt drei Bäuerinnen in Miesbacher Gebirgstracht dar, die lesend und betend auf einer Kirchenbank sitzen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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