Killinger Literaturkunde, Schulbuch

198 1 5 10 15 Adalbert Stifter Feldblumen (1841) [...] ich schaute träumend in die phantastische Dunkelheit, in der die Gebirge hingen, in im- mer stillere und größere Massen schmelzend, und auf den See, der stets starrer und schwär- zer ward und nur hier und da mit einem schwachen, ungewissen Lichtchen aufzuckte. Und immer tiefer sanken Berg und Tal und See in die dunkle, schlummerige Luft vor mir zurück. [...] ich hörte jetzt einen Pistolenschuss und das darauffolgende Gewitter des Echos, das die Berge und den See im Finstern durcheinander wühlte und in Kreisen rollte und sich mäßigte und beschwichtigte und ausmurmelte; sein Verzittern machte mir die Landschaft nur noch unbeweglicher, wie einen schwarzen Klumpen, der in zackiger Linie den silbergrauen Himmel abschnitt. „Seht einmal auf den Röllberg“, sagte mein Nachbar und zeigte mit dem Finger in die Nacht hinaus. Ein lichter Schein stand unten an dem bezeichneten Berge – die Mondesaureole 1 war es; ich glaubte, er selber werde jetzt aufsteigen; aber nur der Schein klomm längs der steilen Kante des Felsens, der ordentlich schwarz gegen diesen Schimmer stand, bis der Mond endlich gerade auf dem Gipfel des Steines wie ein großes Freudenfeuer emporschlug zu dem Himmel, an dem schon alle Sterne harrten. Er trennte sich sodann und schwamm wie eine losgebundene, blitzende, weißglühende Silberkugel in den dunklen Äther 2 empor – und alles war hier unten wieder hell und klar. – Die Berge standen wieder alle da und troffen von dem weißen niederrinnenden Lichte, das Wasser trennte sich und wimmelte von Silberblicken, ein Lichtregen ging in den ganzen Bergkessel nieder, und jedes feuchte Steinchen und jedes tauige Gräschen hatte seinen Funken. 8. Stifters Text gleicht einem detailreichen Gemälde. • Erläutern Sie, woran man erkennt, dass es sich hier nicht um eine Phantasielandschaft, sondern um real Beobachtetes handelt. • Geben Sie Beispiele für die besonders anschauliche Ausdrucksweise Stifters. In wenigen Jahren wurde Stifter zu einem beliebten Schriftsteller des „gebildeten Leserpublikums“ im ganzen deutschen Sprachraum. Im Österreichischen Morgenblatt hieß es Anfang 1845: Bei Stifter ist nichts Gemachtes, nichts Erlerntes, nichts Anempfundenes und Erlogenes. Stifter ist ein Dichter. Doch bald meldeten sich auch Gegner der Stifter’schen Erzählweise zu Wort, deren Kritik nicht selten verletzende Schärfe hatte. Am stärksten traf Stifter ein Epigramm von Friedrich Hebbel, denn sein Urteil hatte größeres Gewicht und fand weitere Verbreitung als das anderer Kritiker. Kritik an der darstellung des Kleinen 1 Mondesaureole: Hof um den Mond 2 Äther: Weite des Himmels Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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