Killinger Literaturkunde, Schulbuch

195 1 5 10 15 20 25 30 35 40 ERSTER AKT, SECHZEHNTE SZENE FLORA (zur Mitte auftretend) FLORA: Das Unkraut Gall’ und Verdruss wachst mir jetzt schon zu dick auf mein’ Ge- schäftsacker, ich kann’s nicht mehr allein ausjäten. Mein seliger Mann hat kurz vorher, als er selig worden ist, g’sagt, ich soll Wittib 1 bleiben – wie kann ein seliger Mann so eine unglückselige Idee haben? Die Knecht’ haben keine Furcht, kein’ Respekt, ich muss ihnen einen Herrn geben, dessen Frau ich bin. Mein Seliger wird den Kopf beuteln in die Wolken! Wann er mir etwan gar als Geist erscheinet, wann’s auf einmal so klopfet bei der Nacht – (es wird an die Tür geklopft; ängstlich aufschreiend) ah! (Hält sich wankend am Tische.) SIEBZEHNTE SZENE FLORA, TITUS (mit schwarzer Perücke zur Mitte hereinstürzend) TITUS: Is ein Unglück g’schehn? Oder kirren 2 Sie vielleicht jedes Mal so statt ’m Herein- sagen? FLORA (sich mühsam fassend) : Nein, bin ich erschrocken! TITUS (für sich) : Seltenes Geschöpf, sie erschrickt, wenn einer anklopft! Sonst ist den Frauenzimmern nur das schrecklich, wann keiner mehr anklopft. FLORA: Der Herr wird sich drüber wundern, dass ich so schwache Nerven hab’? TITUS: Wundern über das Allgemeine? O nein! Die Nerven von Spinnengeweb’, d’Herzen von Wachs und d’Köpferl von Eisen, das is ja der Grundriss der weiblichen Struktur. FLORA (beiseite) : Recht ein angenehmer Mensch – und die rabenschwarzen Haar’! – Ich muss aber doch (laut und in etwas strengem Ton) , wer is der Herr und was will der Herr? TITUS: Ich bitt’, die Ehr’ is meinerseits! Ich bin Ihr untertänigster Knecht und empfehl’ mich. FLORA (nickt ihm erstaunt ein kurzes Adieu zu, weil sie glaubt, er will fort; als er stehen bleibt, sagt sie nach einer Pause) : Na? Diese Red’ sagt man, wenn man fortgehn will. TITUS: Ich aber sag’ sie, weil ich dableiben will. Sie brauchen ein’ Knecht, und als solchen empfehl’ ich mich. FLORA: Was? Der Herr is ein Knecht? TITUS: Zur Gärtnerei verwendbar. FLORA: Als Gehilfe? TITUS: Ob Sie mich Gehilfe nennen oder Gärtner oder – das is alles eins; selbst – ich setz’ nur den Fall – wenn es mir als Gärtner gelingen sollte, Gefühle in Ihr Herz zu p™anzen – ich setz’ nur den Fall – und Sie mich zum unbeschränkten Besitzer dieser Plantage ernennen sollten – ich setz’ nur den Fall – selbst dann würde ich immer nur Ihr Knecht sein. FLORA (beiseite) : Artig ist der Mensch – aber – (laut) Seine Reden sind etwas kühn, etwas vorlaut! TITUS: Bitt’ untertänig, wenn man sagt: „Ich setz’ nur den Fall“, da darf man alles sagen. FLORA: Er ist also – TITUS: Ein exotisches Gewächs: nicht auf diesen Boden gep™anzt, durch die Umstände aus- gerissen und durch den Zufall in das freundliche Gartengeschirr Ihres Hauses versetzt, und hier, von der Sonne Ihrer Huld beschienen, hofft die zarte P™anze, Nahrung zu –nden. 1 Wittib: Witwe 2 kirren: durchdringend schreien 3qf4iv daS Biedermeier | 1815 – 1848 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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