Killinger Literaturkunde, Schulbuch

186 Das Biedermeier hat eine Vorliebe für das Familiäre, für die Idylle im Heim und einen Hang zum Mu- sealen: Alte Hausgeräte, „verschollener Trödel“ (Stifter), Steine, Pflanzen, Insekten werden liebevoll gesammelt und gepflegt. Die Themen und Motive der Dichtung des Biedermeier stammen meist aus dem privaten Bereich. Das Handeln der Menschen dringt nicht in die Öffentlichkeit, ja manche verweigern es überhaupt. Problematisch wird diese Einstellung bei Personen, die zu öffentlichem Handeln berufen sind, wie Kaiser Rudolf II. im Bruderzwist von Grillparzer. Die Lebensgrundstimmung vieler Dichter des Biedermeier ist melancholischer Art (Grillparzer, Rai- mund, Lenau, Stifter). Sie schauen in Erinnerungen zurück, „wehmütig aufs Vergangene“ gerichtet (Mörike). Daher finden sich in ihrer Prosa die vielen Kindheitsgeschichten, die Sehnsucht nach dem einfachen Leben, die Liebe für Einsame, Eigenbrötler, Käuze (Grillparzer, Der arme Spielmann ). Die Handlung greift nicht in die weite Welt hinaus, sie beschränkt sich auf engen Raum: auf Garten und Haus, auf die Familie, die nächste Umgebung. Viele Werke sind von der Umwelt des Dichters ge- prägt, die Werke Stifters vom Böhmerwald, die Raimunds und Nestroys von der Wiener Vorstadt, die Gotthelfs vom Berner Oberland. Es wird das Leben einfacher Bürger, Handwerker und Bauern ge- schildert, über deren Armut die Dichtung hinwegtrösten soll. Armut wird als Tugend dargestellt. Die Probleme der Arbeiterschaft werden ausgespart. Breiten Raum nimmt die Landschaftsschilderung ein (z. B. bei Stifter und Gotthelf), denn eine Landschaft ist unpolitisch. Es ist allerdings nicht mehr die romantische Ideallandschaft, sondern eine erlebte, reale Landschaft mit genauer Wiedergabe der Dinge, die zu beobachten sind. Dabei zeigt sich ein Hang zum Kleinen, zur „Naheinstellung“. Ähnlich konkret wie Landschaften werden Innenräume geschildert. Das Biedermeier ist die Zeit der geselligen Kleinkunst. In der Malerei herrscht eine Vorliebe für die Miniatur, in der Literatur werden epische Kleinformen wie die Erzählung, die Skizze, das Märchen, die Idylle bevorzugt. Es wird wieder viel gereimt, wie in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Gedichte werden zu Zyklen zusammengeschlossen. Die Liedtradition der Romantik wird fortgesetzt, viele Gedichte werden vertont (Schubert, Schumann). In der Ballade verzichtet man auf das Heroische zugunsten des Stimmungshaften und Volkstümlichen (Mörike, Der Feuerreiter ). Beliebt ist das Kleinformat des Buches: Gedichtsammlungen, Almanache, Kalender, Poesiealben im handlichen Ta- schenbuchformat sind in Mode. Die Sprache kennzeichnet in der Lyrik ein leiser, wehmütiger Ton, in der Prosa ein Zug zu Genauig- keit und Sachlichkeit. Das ist ein markanter Unterschied zur Romantik. Der Wortschatz, die Syntax sind konservativ, man will sprachlich keine Neuerungen, keine Experimente. Bei manchen Dichtern (z. B. bei Jeremias Gotthelf) kommen mundartliche Wendungen und Wörter vor. Durch die Vorliebe für Verkleinerungsformen erhält die Sprache etwas Niedliches, Sanftes. Sie knüpft eher an Formen des Rokoko an und steht im Gegensatz zur Sprache des Sturm und Drang. Die Hochliteratur des Biedermeier fand kein sehr großes Publikum. Grillparzer und Stifter hatten nur in ihren Anfängen spektakuläre Erfolge. Nikolaus Lenau, Eduard Mörike, Annette von Droste- Hülshoff kamen über ihren Bekanntenkreis kaum hinaus. Erst nach 1900 beschäftigte man sich wie- der mit Biedermeierliteratur. Die Lesergunst gehörte auch im 19. Jahrhundert vor allem der trivialen Romanliteratur, dann auch realistischen und gesellschaftskritischen Schilderungen, wie sie seit der Jahrhundertmitte die Franzosen lieferten. Schwermut als Grundstimmung Vorliebe für epische Kleinformen Konservative Sprachform Nu zu Prüfzwecken – Eigentu des Verla s öbv

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