Killinger Literaturkunde, Schulbuch

174 10 15 20 25 30 35 40 45 Nun lebten zwei Brüder in dem Lande, Söhne eines armen Mannes, die meldeten sich und wollten das Wagnis auf sich nehmen. Der ältere, der listig und klug war, tat es aus Hoch- mut, der jüngere, der unschuldig und dumm war, aus gutem Herzen. Der König sagte: „Da- mit ihr desto sicherer das Tier ¦ndet, so sollt ihr von entgegengesetzten Seiten in den Wald gehen.“ Da ging der Ältere von Abend und der Jüngere von Morgen hinein. 1 Und als der Jüngere ein Weilchen gegangen war, so trat ein kleines Männlein zu ihm, das hielt einen schwarzen Spieß in der Hand und sprach: „Diesen Spieß gebe ich dir, weil dein Herz unschuldig und gut ist! Damit kannst du getrost auf das wilde Schwein eingehen, es wird dir keinen Schaden zufügen.“ Er dankte dem Männlein, nahm den Spieß auf die Schulter und ging ohne Furcht weiter. Nicht lange, so erblickte er das Tier, das auf ihn losrannte; er hielt ihm aber den Spieß entgegen, und in seiner blinden Wut rannte es so gewaltig hinein, dass ihm das Herz entzweigeschnitten ward. Da nahm er das Ungetüm auf die Schulter, ging heimwärts und wollte es dem König bringen. Als er auf der anderen Seite des Waldes herauskam, stand da am Eingang ein Haus, wo die Leute sich mit Tanz und Wein lustig machten. Sein älterer Bruder war da eingetreten und hatte gedacht, das Schwein liefe ihm doch nicht fort; erst wollte er sich einen rechten Mut antrinken. Als er nun seinen Bruder erblickte, der mit seiner Beute beladen aus dem Wald kam, so ließ ihm sein neidisches und boshaftes Herz keine Ruhe. Er rief ihm zu: „Komm doch herein, lieber Bruder, ruhe dich aus und stärke dich mit einem Becher Wein.“ Der Jün- gere, der nichts Arges dahinter vermutete, ging hinein und erzählte ihm von dem guten Männlein, das ihm einen Spieß gegeben, womit er das Schwein getötet habe. Der Ältere hielt ihn bis zum Abend zurück; da gingen sie zusammen fort. Als sie aber in der Dunkelheit zu der Brücke über einen Bach kamen, ließ der Ältere den Jüngeren vorangehen, und als er mitten über dem Wasser war, gab er ihm von hinten einen Schlag, dass er tot hinabstürzte. Er begrub ihn unter der Brücke, nahm dann das Schwein und brachte es dem König mit dem Vorgeben, er hätte es getötet, worauf er die Tochter des Königs zur Gemahlin erhielt. Als der jüngere Bruder nicht wiederkommen wollte, sagte er: „Das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben“, und das glaubte jedermann. Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze Tat ans Licht kom- men. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte, das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er hinab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum ersten Mal darauf blies, so ¦ng das Knöchlein zur großen Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen: „Ach, du liebes Hirtelein, du bläst auf meinem Knöchelein; mein Bruder hat mich erschlagen, unter der Brücke begraben um das wilde Schwein, für des Königs Töchterlein.“ „Was für ein wunderliches Hörnchen“, sagte der Hirt, „das von selber singt! Das muss ich dem Herrn König bringen.“ Als er damit vor den König kam, ¦ng das Hörnchen abermals an, sein Liedchen zu singen. Der König verstand es wohl und ließ die Erde unter der Brücke 1 von Abend, von Morgen: Hier sind die Himmelsrichtungen West und Ost gemeint. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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