Killinger Literaturkunde, Schulbuch

173 Grammatik und ihr groß angelegtes Deutsches Wörterbuch , das erst 1961 abgeschlossen werden konnte. Die nationalen Gedanken der Romantik drangen in den folgenden Jahrzehnten über die Grenzen Deutschlands hinaus. Ihre Wirkung war dort am stärksten, wo Völker noch keine nationalen Staaten bilden konnten: in Italien, das aus dem Kirchenstaat und Gebieten unter fremder Herrschaft bestand; in Polen, das unter russischer, preußischer und österreichischer Herrschaft stand; in Ungarn und bei den südslawischen Völkern, die zur Habsburgermonarchie oder zum Osmanischen Reich gehörten. Hier liegen die Wurzeln des Nationalismus, der die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und auch noch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte. Volks und Kunstmärchen Die beliebteste Form der Hochromantik war das Märchen, in dem die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wunschwelt durch das Ereignis des Wunderbaren aufgehoben sind. Jacob (1785 – 1863) und Wilhelm Grimm (1786 – 1859) zeichneten viele Volksmärchen auf, die sie 1812 erstmals unter dem Titel Kinder- und Hausmärchen herausgaben. Die Entstehung der Volksmärchen ist nicht ganz geklärt. Auffallend sind die vielen gleichen Motive in Märchen aller Völker, auch solcher, die nie miteinander in Berührung gekommen sind. Märchen wurden jahrhundertelang mündlich überliefert. Der festgefügte Handlungsablauf stellt außeror- dentliche Schwierigkeiten und deren Bewältigung dar. Die Konflikte erwachsen aus gegensätzlichen Charaktereigenschaften der handelnden Personen: fleißig – faul, schön – hässlich, dumm – schlau, gut – böse. Die meisten Figuren haben keine Namen und sind typische Vertreter von Rollen und Ständen in der Gesellschaft (der König, die Prinzessin, der Jäger, der Müller, die Mutter). Daneben treten Wesen anderer Art auf (Hexen, Riesen, Zwerge, Feen). Die Tiere verhalten sich wie Menschen und können sprechen. 2. Nennen Sie typische Märchenfiguren und ihre Eigenschaften. Realistisches und Überwirkliches (Magisches) gehen im Märchen ohne Grenze ineinander über. Ver- zauberungen und Verwandlungen werden als Realität hingestellt. Raum und Zeit werden nur allge- mein angegeben („Es war einmal ...“, „im tiefen Wald“, „in einem Schloss“). Die Umwelt wird nicht genau geschildert. Die Sprache ist volksnah, im Stil und im Satzbau der gesprochenen Erzählweise angenähert. Sie wird formelhaft eingesetzt, z. B. am Anfang und am Schluss des Märchens. Diese Formelhaftigkeit zeigt sich auch in der Verwendung von Versen und Wiederholungen, z. B. etwas dreimal sagen oder tun. 1 5 Gebrüder Grimm Der singende Knochen (1812) Es war einmal in einem Lande große Klage über ein Wildschwein, das den Bauern die Äcker umwühlte, das Vieh tötete und den Menschen mit seinen Hauern den Leib aufriss. Der König versprach einem jeden, der das Land von dieser Plage befreien würde, eine große Belohnung. Aber das Tier war so groß und stark, dass sich niemand in die Nähe des Waldes wagte, worin es hauste. Endlich ließ der König bekannt machen, wer das Wildschwein einfange oder töte, solle seine einzige Tochter zur Gemahlin haben. Wesenszüge des Volksmärchens 43ih4v die romantiK | 1795 – 1835 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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