Killinger Literaturkunde, Schulbuch

172 30 35 40 4. Nun weiß ich, wenn der letzte Morgen sein wird – wenn das Licht nicht mehr die Nacht und Liebe scheucht – wenn der Schlummer ewig und nur Ein unerschöp”icher Traum sein wird. Himmlische Müdigkeit fühl ich in mir. – Weit und ermüdend ward mir die Wallfahrt zum heiligen Grabe, drückend das Kreuz. Die kristallene Woge, die gemeinen Sinnen unver- nehmlich, in des Hügels dunkeln Schoß quillt, an dessen Fuß die irdische Flut bricht, wer sie gekostet, wer oben stand auf dem Grenzgebirge der Welt, und hinübersah in das neue Land, in der Nacht Wohnsitz – wahrlich, der kehrt nicht in das Treiben der Welt zurück, in das Land, wo das Licht in ewiger Unruh hauset. Oben baut er sich Hütten, Hütten des Friedens, sehnt sich und liebt, schaut hinüber, bis die willkommenste aller Stunden hinunter ihn in den Brunnen der Quelle zieht – das Irdische schwimmt obenauf, wird von Stürmen zurückgeführt, aber was heilig durch der Liebe Be- rührung ward, rinnt aufgelöst in verborgenen Gängen auf das jenseitige Gebiet, wo es, wie Düfte, sich mit entschlummerten Lieben mischt. [...] 1. Untersuchen Sie, wie Novalis in diesen Hymnen seine Gemütslage darstellt: • Beschreiben Sie, von welcher Stimmung diese Texte getragen sind. • Diskutieren Sie die Rolle der Nacht. • Argumentieren Sie, wodurch diese Texte trotz der fortlaufenden Zeilen zur Lyrik werden. DIE HocHRoMAnT Ik Als Hochromantik bezeichnet man die Phase ab etwa 1805. Zunächst fanden sich der norddeutsche Junker Ludwig Achim von Arnim (1781 – 1831) und der rheinländische Kaufmannssohn Clemens Brentano (1778 – 1842), beide Studenten in Heidelberg, als Gleichgesinnte (Heidelberger Roman- tik). Zu ihnen gehörten Bettina, die Schwester Brentanos und spätere Frau von Arnim, Joseph Görres und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Der ursprüngliche kosmopolitische 1 Schwung, der über die Grenzen hinaus zu anderen Völkern führte, schlug angesichts der Ohnmacht der deutschen Kleinstaaten gegenüber Napoleon in die Verklärung der deutschen Vergangenheit um. Als mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches (1806) auch noch die letzte überkommene Institution der mittelalterlichen Welt ihr Ende nahm, sahen die deutschen Romantiker im Mittelalter nicht nur die ideale Glaubenseinheit der christlichen Kirche, sondern auch die nationale Größe, die erneuert wer- den sollte. Aus diesem Grund wandten sie sich der altdeutschen Sprache und Literatur zu. Das besondere Interesse der Romantiker galt der Volksliteratur, in der sie das Ursprüngliche, Echte und Unschuldige zu finden glaubten. Zur Volksliteratur zählen Märchen und Sagen, Lieder und Erzählgedichte. Der romantische Sprachstil suchte die Illusion zu steigern. So sollte ein altertümlicher, chronikhafter Stil die Illusion der vergangenen alten Zeit schaffen, die einfache Volkssprache Nähe zur Volksdich- tung herstellen. Die Sprache der Volksbücher, der Märchen und der Volkslieder wurde bewusst aufgenommen und bis in Einzelheiten des Satzbaus und der Wortwahl nachgebildet. Mit Textausgaben und Sammlungen von Märchen, Sagen, Volksbüchern und Liedern wollten die Romantiker auch zur Erneuerung des nationalen Selbstbewusstseins beitragen. In diesem Zusam- menhang muss man die Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn sehen, die Arnim und Bren- tano gemeinsam herausgaben, aber auch die Märchensammlung der Brüder Grimm, ihre altdeutsche heidelberger Kreis Verklärung der deutschen Vergangenheit Volksliteratur 1 kosmopolitisch: weltbürgerlich Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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