Killinger Literaturkunde, Schulbuch

171 novalis Für Novalis ist die Lyrik „das Poetische schlechthin“. Sie ist „Schutzwehr gegen das gewöhnliche Leben“. Ihre Phantasie genießt die Freiheit, „alle Bilder durcheinander zu werfen“. Sie ist Opposition gegen eine Welt der Gewohnheit. „Jedes Wort ist Beschwörung.“ In der dichterischen Sprache „ist es wie mit mathematischen Formeln; sie machen eine Welt für sich aus, spielen nur mit sich selbst.“ „Gedichte, bloß wohlklingend, aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang, höchstens einzelne Strophen verständlich, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedensten Dingen.“ Mit diesen Auffas- sungen von Lyrik wird Novalis zum Vorläufer der modernen Lyrik, insbesondere der surrealen. Die einzige Dichtung, die Novalis (er starb im Alter von 29 Jahren) abgeschlossen hat und die zu seinen Lebzeiten erschien, sind die Hymnen an die Nacht. Entscheidend war das Erlebnis des frühen Todes seiner ersten Braut, Sophie. Novalis beschäftigte sich zur Entstehungszeit der Hymnen mit na- turwissenschaftlichen Problemen und mit den Schriften des Mystikers Jacob Böhme. Seine Hymnen bieten Erfahrungen aus einem Bereich jenseits des bewussten Erlebens. Die handschriftliche Fassung ist in Verszeilen geschrieben, der erste Druck weist fortlaufende Zeilen auf. 1 5 10 15 20 25 Novalis Aus Hymnen an die Nacht (1800) 1. Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreite- ten Raums um ihn das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen; seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag [...] Abwärts wend ich mich zu der heili- gen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht. Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Saiten der Brust weht tiefe Wehmut. In Tautropfen will ich hinuntersinken und mit Asche mich vermischen. – Fernen der Erinne- rung, Wünsche der Jugend, der Kindheit Träume, des ganzen langen Lebens kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen in grauen Kleidern, wie Abendnebel nach der Sonne Untergang. [...] 3. Einst, da ich bittre Tränen vergoss, da in Schmerz aufgelöst meine Hoffnung zerrann und ich einsam stand am dürren Hügel, der in engen, dunkeln Raum die Gestalt meines Lebens barg – einsam, wie noch kein Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben – kraftlos, nur ein Gedanken des Elends noch. – Wie ich da nach Hilfe umherschaute, vorwärts nicht konnte und rückwärts nicht, und am ”iehenden, verlöschten Leben mit unendlicher Sehnsucht hing: – da kam aus blauen Fernen – von den Höhen meiner alten Seligkeit ein Dämmerungsschauer – und mit einem Male riss das Band der Geburt – des Lichtes Fessel. Hin ”oh die irdische Herrlichkeit und meine Trauer mit ihr – zusammen ”oss die Wehmut in eine neue, unergründliche Welt – du Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels kamst über mich – die Gegend hob sich sacht empor; über der Gegend schwebte mein entbundner, neugeborner Geist. Zur Staubwolke wurde der Hügel – durch die Wolke sah ich die ver- klärten Züge der Geliebten. In ihren Augen ruhte die Ewigkeit – ich fasste ihre Hände, und die Tränen wurden ein funkelndes, unzerreißliches Band. Jahrtausende zogen abwärts in die Ferne, wie Ungewitter. An ihrem Halse weint ich dem neuen Leben entzückende Tränen. – Es war der erste, einzige Traum – und erst seitdem fühl ich ewigen, unwandelbaren Glauben an den Himmel der Nacht und sein Licht, die Geliebte. lyrik als Schutz gegen die Gewöhnlichkeit das todeserlebnis des novalis 9q4s4q die romantiK | 1795 – 1835 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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