Killinger Literaturkunde, Schulbuch

170 Natürlich setzten sich die Frühromantiker mit dem Erbe des Sturm und Drang und auch mit den ersten Werken der Klassik auseinander. Die Leitbegriffe des Sturm und Drang, nämlich Natur, Genie, Gefühl, Freiheit, wurden als unabdingbare Voraussetzungen für die Poesie übernommen. Während jedoch der Sturm und Drang jede Führungsrolle der Wissenschaft abgelehnt hatte, ließen sich die Romantiker in hohem Maß von ihr leiten. Für sie waren literaturtheoretische Erörterungen sehr wichtig. Sie suchten nach einer philosophischen Begründung ihres Weltbildes und wollten ihre Ideen auch in die Rechts- und Staatswissenschaft und in die Naturwissenschaften tragen. Für die romantische Weltsicht wurde die Naturphilosophie Schellings bestimmend. Friedrich Wilhelm Schelling verstand die Natur als schöpferischen Urgrund allen Seins. Alles in der Natur strebt darauf zu, Geist zu werden. Das geistige Prinzip entfaltet sich im Menschen als Erkennen, Wollen und Füh- len. Das Erkennen führt zu den Wissenschaften, das Wollen zur Staatenbildung und zur Politik, das Fühlen aber zur Kunst als dem höchsten Ausdruck des menschlichen Geistes. Diese Gedanken nahmen die Romantiker, vor allem Novalis, auf und gingen den Weg zurück: Das Kunstwerk wurde zum Mittel, zu den geheimen Kräften der Natur zurückzukehren. Die Folge war ein Verwischen der Grenzen zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten, wobei sich das Interesse immer mehr auf das Unbekannte, Dunkle, Unheimliche verlagerte. Neben Schelling wirkte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814), der Professor in Jena war, auf die Frühromantiker ein. Er begründete in seiner Wissenschaftslehre (1794) eine Ich-Philo- sophie: Das Ich setzt sich selbst, das heißt, der Mensch erarbeitet sich seine geistig-sittliche Persön- lichkeit. Er ist keine Tatsache, sondern eine Tathandlung. Indem er die Welt denkt und ordnet, ihr einen Sinn gibt, schafft er sie erst. Fichte war von der Freiheit des menschlichen Willens überzeugt. Nicht die Dinge bestimmen das Ich, sondern umgekehrt: Das Ich, der menschliche Geist, schafft und bestimmt die Dinge. Man nennt eine solche philosophische Auffassung Idealismus (zu griech. idéa), weil sie das geistige Prinzip an die erste Stelle setzt (Gegensatz: Materialismus, vgl. die Auffassung von Karl Marx, Seite 212f.). Der subjektive Idealismus Fichtes wird zur Leitlinie der Romantiker: Da die Dinge vom handelnden Menschen ihr Sein und ihren Sinn erhalten, kann der schöpferische Mensch das Sein verändern, auch aufheben. Der Künstler hat die Freiheit zum unbegrenzten Spiel mit Stoff, Stimmung und Form. Er schafft aus seiner Phantasie eine Welt der Illusion, die er danach in Frage stellen, ja wieder aufheben kann. Diese romantische Ironie wird zum Kennzeichen der Darstellungsweise. Die Roman- tiker waren sich durchaus bewusst, dass ihr Versuch der Poetisierung der Welt Utopie bleiben würde und zum Scheitern verurteilt war. Einige Dichter der Frühromantik besaßen ein feines Gefühl für fremde Sprachen und Kulturen. Sie erschlossen durch Übersetzungen und Nachdichtungen dem deutschen Publikum die literarischen Schätze vieler Zeiten und Länder. August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck und später dessen Tochter Dorothea stellten Übersetzungen der Dramen Shakespeares her, die heute noch gedruckt und ge- spielt werden. Auch portugiesische, spanische und italienische Werke wurden übersetzt. Muster aller Poesie war für die Frühromantik Goethes Wilhelm Meister , mit dem sich fast alle produktiv auseinandersetzten. Sie wandelten den Entwicklungs- und Bildungsroman in den Künst- lerroman um. Zwischen den Klassikern in Weimar und den Romantikern in Jena gab es zwar keine Übereinstimmung, doch einen Ideen- und Gedankenaustausch. Mit der Zeit aber wurden die Un- terschiede immer deutlicher. Die Klassik zielte auf das Objektive, Allgemeingültige; die Romantik suchte das Individuelle, Charakteristische. Das Vorbild der Antike wurde von den Romantikern nicht mehr unbedingt anerkannt. Dafür fanden sie im Mittelalter ihre Ideale verwirklicht. In Novalis’ Ro- man über einen sagenhaften Minnesänger, Heinrich von Ofterdingen , findet sich das Symbol der romantischen Poesie, die „blaue Blume“. Auch Ludwig Tieck siedelte viele seiner Geschichten im Mittelalter an, z. B. seine märchenhafte Erzählung Der blonde Eckbert . Tieck stellte das Geheimnis- volle, das Abgründige und die Sehnsucht dar, Themen, die von den Klassiker gemieden wurden. Geist als Ziel der entwicklung das ich als Schöpfer einer sinnvollen Welt aufhebung der illusion durch ironie übersetzungen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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