Killinger Literaturkunde, Schulbuch

17 1039 Diu naht was zergangen: man sagte. e  wolde tagen. dô hie  die edel vrouwe zuo dem münster tragen Sîfriden den herren, ir vil lieben man. swa  er dâ vriunde hête, die sach man weinende gân. 1040 Dô si. in zem münster brâhten, vil der gloken klanc. dô hôrte man allenthalben vil maniges pfaffen sanc. dô kom der künic Gunther mit den sînen man und ouch der grimme Hagene zuo dem wuofe gegân. 1041 Er sprach: „vil liebiu swester, owê der leide dîn, da  wir niht kunden âne des grô  en schaden sîn. wir müe  en klagen immer den Sîfrides lîp.“ „da  tuot ir âne schulde“, sprach da  jâmerhafte wîp. [...] 1043 Si buten vaste. ir lougen. Kriemhilt begonde jehen: „swelher sî unschuldec, der lâ  e da  gesehen; der sol zuo der bâre vor den liuten gên. dâ bî mac man die wârheit harte schiere verstên.“ 1044 Da  ist ein michel wunder: vil dicke. e  noch geschiht, swâ man den mortmeilen bî dem tôten siht, sô bluotent im die wunden: als ouch dâ geschach. dâ von man die schulde dâ ze Hagene gesach. Die Nacht war nun vergangen, und es hieß, der Morgen nahe heran. Da ließ die edle Herrin ihren geliebten Gemahl, den Herrn Siegfried, zum Münster tragen. Alle, die seine Freunde waren, sah man weinend dem Sarg folgen. Als sie ihn nun zum Münster trugen, da läuteten viele Glocken. Da hörte man von allen Seiten den Gesang unzähliger Geistlicher. Da schlossen sich Gunther mit seinen Gefolgsleuten und auch der finstere Hagen den Wehklagenden an. Gunther sagte: „Meine liebe Schwester, ach, wie musst du leiden! Wäre uns doch dieser Verlust erspart geblieben! Allezeit wird es uns ein Bedürfnis sein, um Siegfried zu klagen.“ „Dazu habt ihr gar keinen Grund!“, sagte da die trauernde Frau. [...] Sie leugneten es mit Entschiedenheit. Doch Kriemhild sagte: „Wer unschuldig ist, der soll das auch öffentlich zeigen und vor den Augen aller Leute zu der Totenbahre treten. Dann wird man sehr schnell die volle Wahrheit erkennen.“ Es grenzt ans Wunderbare, und dennoch geschieht es noch heute: Wo ein mordbefleckter Mensch an den Leichnam seines Opfers tritt, da bluten die Wunden von neuem, so wie es auch da geschah. Daran wurde offenbar, dass die Schuld bei Hagen lag. Die Aufbahrung des Toten in der Kirche 3. Verfassen Sie eine Prosaübertragung der Strophen 1039 bis 1044 in heutiges Deutsch. In Hagens Mord an Siegfried, in der zynischen Grausamkeit, den Ermordeten nachts heimlich vor Kriemhilds Schlafgemach legen zu lassen, wird zum ersten Mal eine Triebkraft wirksam, die fortan das Denken und Handeln der Hauptfigu- ren bestimmt und schließlich zum Untergang der Burgunden führt: das Verlangen nach „eislîcher râche“, nach furchtbarer, maßloser Vergeltung. Kriemhild an Siegfrieds Bahre, Farblithografie nach einem Gemälde von Emil Lauffer 45a6tn DAS HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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