Killinger Literaturkunde, Schulbuch

167 Anekdote Das Wort Anekdote bedeutet wörtlich: Nichtherausgegebenes. Der Begriff entstand am byzanti- nischen Hof des Kaisers Justinian (6. Jahrhundert), wo Klatschgeschichten über wichtige Persön- lichkeiten erzählt wurden. Vom Inhalt her wurde die Form geprägt: Anekdote ist heute eine kurze, oft heiter-witzige Erzählung einer merkwürdigen Begebenheit am Rande. Häufig geht es um eine bekannte Persönlichkeit, die im privaten Bereich charakterisiert wird. Den Schluss bildet eine Pointe, eine überraschend witzige Wendung. Die Anekdote erfordert eine knappe, dem Witz verwandte Sprache, welche die Pointe durch Weglassen alles Überflüssigen scharf und zugespitzt herausarbei- tet. Der Baseler Johann Peter Hebel (1760 – 1826) gab jahrelang einen volkstümlichen Kalender he- raus, den Rheinländischen Hausfreund , in dem er eine große Zahl von Anekdoten abdrucken ließ. Die heute noch lebendige Anekdote hat etwas von der Ursituation des Erzählens bewahrt: Der Er- zähler berichtet aus seiner Erinnerung einen selbst erlebten oder gehörten merkwürdigen Vorfall in wirkungsvoller Weise, um sein Publikum in Erstaunen zu setzen und zu unterhalten. Die wenigen Anekdoten, die Kleist geschrieben hat, sind kennzeichnend für seinen Prosastil. 1 5 10 15 Heinrich von Kleist Der verlegene Magistrat (1810) Ein H...r Stadtsoldat hatte vor nicht gar langer Zeit, ohne Erlaubnis seines Ofˆziers, die Stadtwache verlassen. Nach einem uralten Gesetz steht auf ein Verbrechen dieser Art, das sonst der Streifereien des Adels wegen, von großer Wichtigkeit war, eigentlich der Tod. Gleichwohl, ohne das Gesetz mit bestimmten Worten aufzuheben, ist davon seit vielen hun- dert Jahren kein Gebrauch mehr gemacht worden: dergestalt, dass statt auf die Todesstrafe zu erkennen, derjenige, der sich dessen schuldig macht, nach einem feststehenden Gebrauch, zu einer bloßen Geldstrafe, die er an die Stadtkasse zu erlegen hat, verurteilt wird. Der besagte Kerl aber, der keine Lust haben mochte, das Geld zu entrichten, erklärte, zur großen Bestürzung des Magistrats: dass er, weil es ihm einmal zukomme, dem Gesetz gemäß, sterben wolle. Der Magistrat, der ein Missverständnis vermutete, schickte einen Deputierten an den Kerl ab und ließ ihm bedeuten, um wie viel vorteilhafter es für ihn wäre, einige Gul- den Geld zu erlegen, als arkebusiert 1 zu werden. Doch der Kerl blieb dabei, dass er seines Lebens müde sei und dass er sterben wolle: dergestalt, dass dem Magistrat, der kein Blut vergießen wollte, nichts übrig blieb, als dem Schelm die Geldstrafe zu erlassen, und noch froh war, als er erklärte, dass er, bei so bewandten Umständen, am Leben bleiben wolle. 8. Arbeiten Sie typische Merkmale der Anekdote anhand dieses Textes heraus: • Heben Sie die merkwürdige Begebenheit hervor. • Zeigen Sie die witzige Wendung auf. • Kommentieren Sie die sprachliche Umsetzung. 1 arkebusiert: erschossen (Arkebuse = Gewehr) r3i2pq ZWISCHEN KLASSIK UND ROMANTIK Nur z Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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